Sherlock Holmes und die ewige Frage nach seiner Sexualität

Sherlockianische Grüße, liebe Deerstalkerträger. Nach einer kleinen krankheitsbedingten Pause geht es weiter mit den #bakerstreetblogs. Heute wird es heiß – zumindest so heiß wie es werden kann, wenn man es mit einer Denkmaschine aus verschlossenen viktorianischen Tagen zu tun hat. Sabine und ich befassen uns auf unseren Blogs heute beide mit einem viel diskutierten Thema: Sherlock Holmes’ Sexualität. Schaut daher später unbedingt auch auf Ant1heldin vorbei.

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Die ewige Frage

An der Frage nach Holmes Sexualität scheiden sich die Geister. “Sherlock Holmes war verliebt in Irene Adler und ist deshalb eindeutig hetero”, sagen die einen; “Total falsch! Er ist schwul und liebt Watson!”, erwidern die anderen; während wieder andere sagen “Ihr habt alle unrecht! Er steht auf keinen von beiden – er ist offensichtlich asexuell”.
Insbesondere unter Fans und Zuschauern der BBC Serie Sherlock nimmt diese Diskussion einen großen Raum ein und die Debatten zwischen “Johnlockern” (Fans, die der Meinung sind, John und Sherlock wären ein Paar oder sollten eins sein) und Vertretern der anderen Lager sind emotional extrem aufgeladen.
Dass diese Debatte heute noch so präsent ist und bei jeder Neuauflage des Stoffes wieder diskutiert wird, liegt unter anderem daran, dass auch die Sexualität des originalen Sherlock Holmes von Sir Arthur Conan Doyle ein großes Mysterium ist und Anlass für Spekulationen bietet: Waren Watson und Holmes wirklich nur Mitbewohner oder haben sie sich eigentlich ein Schlafzimmer geteilt? Warum heiratet Holmes nicht, obwohl dies in der damaligen Zeit wohl der Regelfall war? Und warum ist Irene Adler für ihn nicht nur irgendeine, sondern DIE Frau?

Ich möchte in diesem Artikel der Frage auf den Grund gehen, ob Sherlock Holmes homo-, hetero- oder asexuell ist. Dazu werfe ich einen Blick auf die gängigsten Theorien, Argumente und Belege zum Text. Der Modus Operandi ist dabei “Back to the roots” – im Fokus meiner Betrachtung stehen die Original-Geschichten von Arthur Conan Doyle. Wie es der Zufall so will, beschäftigt sich Sabine in ihrem Artikel zu Holmes Sexualität dagegen eher mit modernen Adaptionen –  schaut daher später unbedingt vorbei.
Aber nun: “Let us hear the suspicions. I will look after the proofs.” (The Adventure of the Three Students)

Die Theorien

Bevor wir anfangen noch ein Hinweis: Mir ist natürlich klar, dass einige andere sexuellen Ausrichtungen in dieser Diskussion außen vor gelassen werden – immerhin könnte Holmes beispielsweise auch bi- oder pansexuell sein – aber ich will mich im Folgenden auf Homo-, Hetero- und Asexualität beschränken, weil es diese drei Möglichkeiten sind, die in der öffentlichen Diskussion zu dem Thema die vordergründigen sind.

Annahme 1: Sherlock Holmes ist heterosexuell (und liebt Irene Adler)

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Irene Adler legt gleich zu Beginn der Geschichte “A Scandal in Bohemia” einen ziemlichen Auftritt hin. Denn die Worte, mit denen Watson sie in den ersten Sätzen beschreibt, machen klar, dass Miss Adler eine besondere Rolle einnimmt: To Sherlock Holmes she is always the woman. I have seldom heard him mention her under any other name. In his eyes she eclipses and predominates the whole of her sex.

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Es sind diese Sätze und die Tatsache, dass Holmes zum Andenken an den Fall zwei Souvenirs (eine Fotografie und eine Münze) einbehält, die für viele ein untrügerisches Zeichen dafür sind, dass Miss Adler es Holmes ziemlich angetan hat. Ich denke, das hat sie auch tatsächlich. Aber nicht, weil er in sie verliebt war, sondern aus einem anderen Grund: Sie hat Holmes geschlagen, war ihm einen Schritt voraus, hat seine Ermittlungen und Verkleidung durchschaut. Holmes fühlt sich von Problemen angezogen und kann einem guten Gegenspieler viel abgewinnen – und genau das stellt Irene Adler dar. Die beiden Dinge, die daher im Falle der Irene Adler allzu oft miteinander verwechselt werden, sind Liebe und Respekt.

Die Denkmaschine
Watson, unser Erzähler, macht übrigens auch gleich zu Beginn der Geschichte klar, dass Holmes keine Gefühle für Miss Adler (oder überhaupt irgendjemanden) hegt. Dieser Teil des Zitats gerät aber gerne in Vergessenheit, wenn man Holmes Gefühle für Irene Adler betrachtet: It was not that he felt any emotion akin to love for Irene Adler. All emotions, and that one particularly, were abhorrent to his cold, precise but admirably balanced mind.
Hier wird deutlich, dass Holmes als Denkmaschine dargestellt wird, die sich Emotionen nicht hingibt, beziehungsweise sie einfach nicht empfindet. Frauen – genau wie Männer – werden für Holmes immer nur dann interessant, wenn sie ihn vor ein Problem stellen, an dessen Lösung er arbeiten kann.

Not my department
Was andere Frauen betrifft, so wird Holmes in den Geschichten als ein Mann beschrieben, der insgesamt keine hohe Meinung von ihnen und ihrer Intelligenz hat (bis ihn Miss Adler eines besseren belehrt): „He used to make merry over the cleverness of women, but I have not heard him do it of late.“
Er scheint außerdem offensichtlich Probleme damit zu haben, das Verhalten von Frauen zu deuten und ihre Motive zu erkennen. Bezeichnend dafür ist eine Passage aus der Geschichte The Second Stain, in der Holmes verlauten lässt, dass Frauen nicht zu seinem Fachbereich gehören: Now, Watson, the fair sex is your department,“ said Holmes, with a smile, when the dwindling frou-frou of skirts had ended in the slam of the front door. „What was the fair lady’s game? What did she really want?“

Was also Holmes angenommene Heterosexualität betrifft, halten wir fest: Irene Adler nimmt eine Sonderstellung ein. Sie ist DIE Frau, die Holmes geschlagen hat und der dadurch sein Respekt, nicht aber andere Emotionen, zuteil wird. Abgesehen davon interessiert sich Holmes nicht für Frauen, es sei denn sie kommen mit einem interessanten Problem zu ihm. Das “schöne Geschlecht” gehört eben nicht in seinen “Fachbereich”. Ich denke, wir können den Fall damit abschließen…

Annahme 2: Sherlock Holmes ist homosexuell (und lebt in einer Beziehung mit Dr. Watson)

Dass Holmes homosexuell ist und Gefühle für Dr. Watson hegt, dürfte wohl die populärste Annahme bezüglich Holmes’ Sexualität sein – zumindest ist es die, die am häufigsten diskutiert wird. Insbesondere unter Fans der BBC Serie Sherlock ist dies eine Theorie, die viele leidenschaftliche Anhänger findet.

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My dear Watson…
Als Beweis dafür, dass Holmes und Watson ein Paar sind, wird vor allem häufig angeführt, dass sie Ausdrücke füreinander nutzen, die auf eine gewisse Zuneigung schließen lassen: “My dear fellow”, “my dear Watson”, “my friend and partner”, “my intimate friend”, “the best and wisest man” usw.
Hier muss man aber eindeutig im Kopf behalten, dass diese Texte aus einer anderen Zeit stammen und Ausdrücke wie “my intimate friend” nicht bedeuten, dass die beiden sexuell intim miteinander werden. Es sind einfach ganz gewöhnliche Ausdrücke, um ein Freundschaftsverhältnis auszudrücken.

Watson hält mit seiner Bewunderung für Holmes nicht hinter dem Berg und hebt seine genialen Fähigkeiten hervor, wo er nur kann – auch das ist für viele ein Beweis für Verliebtheit. Aber hier sollte man nicht außer Acht lassen, dass Watson vor allem als eines fungiert: Als Erzähler – und damit als die Figur, die uns den Held Sherlock Holmes nahebringen soll. Er nimmt außerdem eine Rolle ein, die wir als Leser übernehmen sollen: Die des Bewunderers. Natürlich mangelt es daher nicht an Lobpreisungen für Holmes. Man würde wohl kaum eine Geschichte á la “Ihr werdet nicht glauben, was für durchschnittliche Abenteuer ich zusammen mit meinem blassen Kumpel erlebe!” erzählen.

Now and then
Der Blick auf Holmes und Watson wird außerdem vermutlich durch heutige Annahmen darüber, wie Interaktion zwischen Mann und Mann auszusehen haben, etwas beeinträchtigt. Insbesondere unter heterosexuellen Männern tut man sich schwer mit Zuneigungsbekundungen, Ausdrücken von Bewunderung oder dem Spazieren Arm in Arm, wie es in viktorianischen Zeiten üblich war – schließlich läuft man dadurch Gefahr, als nicht männlich genug zu gelten. (Tragisch und lächerlich, wenn ihr mich fragt.) Die Freundschaft zwischen Watson und Holmes, wie sie in den Geschichten dargestellt wird, wirkt daher aus heutiger Sicht sehr intim und romantisch aufgeladen. Sie entspricht aber dem Bild einer engen Männer-Freundschaft in viktorianischen Zeiten.

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Dass Holmes in Watson verliebt ist, sehen die Anhänger dieser Theorie außerdem vor allem in zwei Vorfällen in den Geschichten bestätigt:

Watson in distress und Hochzeitsschmerz
In The Three Gerridebs wird Watson angeschossen und Holmes zeigt hier zur Abwechslung mal recht offen seine Bestürzung und Angst: „You’re not hurt, Watson? For God’s sake, say that you are not hurt!“
It was worth a wound—it was worth many wounds—to know the depth of loyalty and love which lay behind that cold mask. The clear, hard eyes were dimmed for a moment, and the firm lips were shaking. For the one and only time I caught a glimpse of a great heart as well as of a great brain.
Dem Verursacher der Schusswunde sagt Holmes außerdem: “If you had killed Watson, you would not have got out of this room alive.”
Dass es sich hierbei um eine Liebesbekundung handelt, kann aber durchaus in Frage gestellt werden. Jeder Mensch würde wohl eine gewisse Bestürzung an den Tag legen, wenn jemand, egal ob bester Kumpel oder Liebespartner, angeschossen wird – umgangsprachlich ausgedrückt: man würde ziemlich ausrasten. Zudem sagt Watson deutlich, dass es das erste und EINZIGE Mal war, dass Holmes derartige Regungen gezeigt hat, was sicherlich nicht der Fall wäre, wenn die beiden ein Paar gewesen wären.

In The Sign of the Four eröffnet Watson, zu Holmes Missfallen, dass er Miss Mary Morstan einen Heiratsantrag gemacht hat. Holmes quittiert das nicht gerade mit Begeisterung: He gave a most dismal groan. „I feared as much,“ said he. „I really cannot congratulate you.“
Natürlich könnte man diesen Abschnitt so auslegen, dass Holmes nicht begeistert von Watsons bevorstehender Heirat war, weil er selbst romantische Gefühle für den Doktor hegt. Der Ausdruck des Missfallens könnte aber genauso gut auch in eine andere Richtung gedeutet werden: Holmes ist ein Mann, der nicht viele Freunde hat. Eigentlich nur den einen: Dr. Watson. Gibt sich Watson nun der Ehe hin, droht die Gefahr, dass die Freundschaft verblasst. Die Angst, Freunde an die Ehe oder generell an die Liebe zu ‘verlieren’ ist kein unbekanntes Phänomen. Sätze wie: “Das ist das Ende einer Ära!”, werden in einem solchen Zusammenhang gern gebraucht (unter anderem übrigens auch in Sherlock im Zuge von Watsons Hochzeitsvorbereitungen). Wenn man daher die abwehrende Haltung Holmes’ gegenüber Watsons bevorstehender Heirat als Beweis dafür sieht, dass er homosexuell ist, müsste man das auch bei vielen anderen Freundschaften tun. In König der Löwen singen Timon und Pumbaa beispielsweise sogar ein Lied darüber, dass Simbas Beziehung zu Nala der lustigen Freundschaft und Leichtigkeit des Seins ein Ende bereiten wird. Niemand käme wohl aber auf die Idee zu behaupten, dass Timon und Pumbaa romantische Gefühle für Simba hegen. Ohnehin macht Holmes im weiteren Verlauf des Gesprächs deutlich, warum er nichts von der ganzen Sache hält: But love is an emotional thing, and whatever is emotional is opposed to that true cold reason which I place above all things.
Das entspricht im Grunde dem Punkt, auf den wir bei der Heterosexualität bereits gestoßen sind: Denkmaschine Holmes vs. Emotionen. Das Zitat nimmt auch der Annahme, dass Holmes in Watson verliebt ist, ein wenig den Wind aus den Segeln. Denn wenn Holmes hier die Wahrheit spricht, können wir davon ausgehen, dass er alles, was sein logisches Denken korrumpieren könnte, aus seinem Leben ausschließt. Holmes würde also nicht mit Watson zusammenleben, wenn er eine Ablenkung darstellen würde. Die Arbeit ist das wichtigste für Holmes. Alles was ihr im Wege steht, muss weichen.

Arthur Conan Doyles Ansichten zu Homosexualität
Ein letzter Faktor, den man in Bezug auf die angenommene Homosexualität von Holmes und Watson in Betracht ziehen muss, ist der Autor: Arthur Conan Doyle. Doyle war mit großer Wahrscheinlichkeit selbst heterosexuell, heiratete zwei Mal und lebte den damaligen Werte- und Normvorstellungen entsprechend. Er hatte zwar durchaus Bekannte, denen man Homosexualität nachsagte oder die keinen großen Hehl daraus machten – wie beispielsweise Oscar Wilde – und wir können daher annehmen, dass er ein geringeres Problem mit Homosexualität hatte als die Gesetzgebung der damaligen Zeit. Aber aus einer Bemerkung über Oscar Wilde in seinen Memoiren wird deutlich, dass Doyle Homosexualität zwar nicht als Verbrechen, aber als Krankheit sah: „I thought at the time, and still think, that the monstrous development which ruined him was pathological, and that a hospital rather than a police court was the place for its consideration.“
Es erscheint daher fragwürdig, dass ein Mann mit solchen Ansichten zwei Homosexuelle zu den Helden seiner Geschichten machen würde.

Beweise?
Für die Annahme, dass Holmes und Watson ein Liebespaar sind, gibt es keinen eindeutigen Beweis. Alle Textstellen, die man in diese Richtung auslegen könnte, können genauso auch in eine andere Richtung interpretiert werden. Alles, was im Falle von Holmes und Watson als Beweis für ihre Liebe zueinander ausgelegt wird, kann genauso gut als Ausdruck einer Freundschaft gesehen werden. Eifersucht, Verlustängste, Bewunderung und Loyalität sind keine Eigenschaften, die exklusiv für romantische Beziehungen gelten. Daher sollte man sich in Bezug auf die Originale und auch in Bezug auf BBCs Sherlock und die große Queerbaiting-Debatte fragen, ob man etwas wirklich sieht, oder ob man es nur sehen will. Oder um es mit den Worten Holmes’ zu sagen: It is a capital mistake to theorize before one has data. Insensibly one begins to twist facts to suit theories, instead of theories to suit facts. (The Adventure of the Three Students)
Gegen die Annahme, dass Holmes und Watson ein homosexuelles Paar sind, sprechen aber aus meiner Sicht gleich mehrere Punkte: Arthur Conan Doyles Ansichten zur Homosexualität, die Tatsache, dass Watson (mindestens) zweimal Frauen heiratet und vor allem, dass Holmes auch bei Männern kein Interesse an allem zeigt, was auch nur im Ansatz mit Liebe, Lust und Sex zu tun hat.

Annahme 3: Sherlock Holmes ist asexuell

In den vorangegangenen Beobachtungen zur Hetero- und Homosexualität sind wir bereits darauf gestoßen, dass Holmes sich grundsätzlich von Emotionen distanziert. Sie stehen ihm auf der Suche nach Lösungen und logischen Schlüssen im Weg.

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Sex? No, thank you.
Menschen – ungeachtet des Geschlechts – interessieren Holmes nicht aus einer emotionalen Perspektive, sondern nur wegen der Fälle und Probleme, die sie zu ihm bringen. Über Sex und Leidenschaft äußert er sich abfällig. So beschreibt Watson in A Scandal in Bohemia: He was, I take it, the most perfect reasoning and observing machine that the world has seen, but as a lover he would have placed himself in a false position. He never spoke of the softer passions, save with a gibe and a sneer. They were admirable things for the observer—excellent for drawing the veil from men’s motives and actions. But for the trained reasoner to admit such intrusions into his own delicate and finely adjusted temperament was to introduce a distracting factor which might throw a doubt upon all his mental results.
Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass Holmes wirklich asexuell ist (also sich nicht sexuell von anderen Menschen angezogen fühlt). Es zeigt nur, dass Sex und logisches Denken in den Augen Watsons und Holmes’ in einem Widerspruch stehen. Immer wieder diskutiert wird in diesem Zusammenhang daher auch, ob Holmes in einem Zustand des selbstauferlegten Zölibats lebt, um sich von den Stimuli zu befreien, die logisches Denken beeinträchtigen könnten. Das ist in meinen Augen aber eine recht fragwürdige Annahme, da auch ein Zölibat nicht dafür sorgt, dass Gefühle und Bedürfnisse auf magische Weise aus dem Kopf verschwinden, sondern nur dafür, dass man ihnen nicht nachgibt.

Hirn mit Anhang
Die Annahme, dass Holmes asexuell ist, deckt sich, meiner Ansicht nach, insgesamt am ehesten mit der Darstellung in Arthur Conan Doyles Werken. Denn es wird deutlich, was wir schon in der Betrachtung der beiden vorherigen Annahmen gesehen haben: Sherlock Holmes hat kein Interesse an Sex. Allerdings bleibt unklar, ob dies etwas ist, dass er trainiert hat, oder ob das Verlangen dazu einfach fehlt. Sicher ist aber in jedem Fall, dass Holmes sein Denkvermögen über alles andere stellt, wie er es auch in The Mazarin Stone gut beschreibt: „I am a brain, Watson. The rest of me is a mere appendix.“

Ein (persönliches) Abschlussplädoyer

Es ist keine leichte Aufgabe, die Sexualität eines fiktiven Charakters zu besprechen, wenn das Thema in dem entsprechenden Werk nicht oder nur in Ansätzen behandelt wird. Natürlich war der Gedanke dieses Artikels aber eben genau das zu tun, weil die Debatte um Holmes Sexualität so unglaublich viel Raum innerhalb der Fangemeinschaft einnimmt. In den Original-Geschichten stehen Liebe und Sex jedoch keineswegs im Fokus und sind für Holmes allenfalls als Motive für Verbrechen von Belang.
Die Sherlock Holmes Geschichten sind angelegt als Kriminal- und Abenteuergeschichten und Holmes wurde von Arthur Conan Doyle bewusst als “Denkmaschine” erschaffen, der menschliche Emotionen fern sind. Diese Maschine braucht Hirnarbeit, wie andere Luft zum Atmen und ist gerade wegen ihrer Emotionslosigkeit so gut darin, Probleme zu lösen. Holmes‘ Sexualität spielt in diesem Zusammenhang schlicht und ergreifend keine Rolle. Die Figur Holmes existiert, um Abenteuer zu erleben und Fälle zu lösen und nicht, um sich unsterblich zu verlieben oder die Betten Londons unsicher zu machen.
Vermutlich ist es aber genau diese Auslassung des Themas in den Originalen, die für Verwirrung sorgt. Denn Sex, Liebe und Emotionen sind Kräfte, die die meisten Menschen antreiben, bewegen, beschäftigen. Daher ist es in den Augen Vieler merkwürdig, auf eine Figur zu treffen, für die all das keine Relevanz hat. Er muss, muss, muss(!) sich doch mal verlieben oder sonstwelche Emotionen zeigen, wie wir alle es tun. Er muss doch die Nähe zu anderen suchen, muss sich von etwas hingezogen fühlen. Er muss innerlich zerbrechen an der harten Fassade, die er nach außen hin aufbaut. Nein, muss er nicht. Denn, was bei solchen Gedankengängen oft vergessen wird ist Folgendes: Sherlock Holmes ist eine fiktive Figur, kein echter Mensch. (Leseempfehlung dazu: Sabines Artikel „Fiktive Figuren sind keine realen Menschen“)

Dass es in den Sherlock Holmes Geschichten eben nicht um Sex oder Liebe geht, ist etwas, das ich persönlich an ihnen schätze. Ich bin es leid, ständig in allen Gattungen der Fiktion immer nur auf diese beiden Motive zu treffen. Ja, natürlich sind das wichtige Motive, die auch das “echte Leben” bestimmen und mit denen man sich deshalb identifizieren kann, aber es sind eben nicht die einzigen. Es scheint heutzutage beinahe unmöglich, eine Geschichte zu erzählen, ohne den Schwerpunkt auf Liebe, Lust und Sex zu legen. Mich langweilt das. Daher setzt bei mir sofort das Augenrollen ein, wenn Holmes-Adaptionen oder Pastiches die Sexualität in den Vordergrund rücken oder versuchen, das tragische Bild eines unglücklich verliebten Mannes zu vermitteln. Diese Vermenschlichung der Denkmaschine in Elementary, Sherlock und Co. und die Diskussion darüber, ob es zwischen irgendwelchen Charakteren erotische Anziehungen gibt, rückt etwas in den Fokus, das schlicht und ergreifend nicht da ist. Man kann, wenn man denn will, vieles in Textpassagen aus Büchern oder in Dialoge und Gesten aus Filmen und Serien hineininterpretieren. Und man kann, wenn man Spaß daran hat, gerne auch so viele Fanfictions schreiben, wie man möchte und der Fantasie freien Lauf lassen. Aber für die Geschichten und die Figur, wie Doyle sie erschaffen hat, ist Sexualität etwas, das keine Relevanz hat. Sherlock Holmes hat mit Sex einfach nichts am ohrenklappigen Hut. Daher denke ich, man sollte Holmes einfach Holmes sein lassen. Gebt ihm lieber Fälle zum Lösen, denn das ist das, worauf er wirklich steht.

Ob Sabine das alles ganz anders sieht? Erfahrt es in Ihrem Beitrag zu Sherlock Holmes’ Sexualität. HIER GEHT’S ZUM ARTIKEL.

Was meint ihr zu diesem Thema? Ist Sherlock eine reine Denkmaschine oder verbirgt er seine Gefühle nur vor anderen? Sind Holmes und Watson ein Paar? Oder ist Sherlock in Irene Adler verliebt? Verratet es uns in den Kommentaren oder auf sozialen Kanälen unter dem Hashtag #bakerstreetblogs.

There are 12 comments

  1. Karin

    „Es scheint heutzutage beinahe unmöglich, eine Geschichte zu erzählen, ohne den Schwerpunkt auf Liebe, Lust und Sex zu legen. Mich langweilt das.“
    Da kann ich dir nur zustimmen. Ich bin auch mal froh, wenn ein Roman nicht nur darauf ausgelegt ist. Und ich finde schön, dass du herausstellst, dass es nun einmal um die zu lösenden Fälle geht und nicht in erster Linie um die „Bettgeschichten“. Vielleicht muss man einfach lernen sich mit zufrieden zu geben. Wobei man ja als Fan durch die neuen Ansätze und Neuverfilmungen trotzdem von den Filmproduzenten mit den Liebesbeziehungen versorgt wird.
    Ich kenne mich da grundsätzlich wohl eh zu wenig aus, aber ich könnte mir vorstellen, dass Arthur Conan Doyle gar nicht so „tief“ gehen wollte, weil er die Geschichten ja nur so nebenbei geschrieben hat und nicht damit gerechnet hat, dass sie sich solcher Beliebtheit erfreuen.

    So, jetzt springe ich aber nochmal zum Beitrag von der lieben Sabine. 🙂

    Liebe Grüße
    Karin

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  2. Sabrina

    Liebe Karo,

    ich hatte die Diskussionen eigentlich immer nur im Zusammenhang mit der BBC-Serie richtig mitbekommen (und verstanden). Für mich war bei den Originalgeschichten Holmes Sexualität einfach kein Thema. Wenn ich es beurteilen müsste, würde ich aber auch auf asexuell tippen. Sollte ich das einmal begründen müssen, kann ich ja in Zukunft ganz einfach auf deinen Artikel verweisen. (Die Auswahl der Textpassagen ist wirklich gelungen!)

    Ich fands super, wie du klar gemacht hast, dass viele Aussagen und Reaktionen auch unter Freunden völlig normal sind (der Vergleich mit Timon und Pumbaa kam SEHR unerwartet und ist daher echt genial!). Das geht mir nämlich auch so oft auf die Nerven. Als ob ich nicht völlig durchdrehen würde, wenn meine beste Freundin angeschossen werden würde. Mir kommt es so vor, als könnte in keiner Geschichte mehr eine enge Freundschaft vorkommen, ohne dass dahinter gleich die nächste große Romanze gewittert wird. Echt schade.

    Alles Liebe
    Sabrina

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  3. ninakol.

    Hi. Die Menschen vergessen einfach heute, dass die Geschichten um Holmes und Watson entstanden sind, als sich Menschen noch mit Sie anredeten, (selbst verheiratet,) die Zeit sehr prüde und konservativ war und Doyle nun Mal Krimis schrieb, keine Romantik Thriller, o.ä.
    Es waren auch keine Dramen, sondern für ein Magazin regelmäßig (mehr o weniger) erscheinender Lesestoff für die breite Masse. (Kein Wunder, dass Holmes Schöpfer irgendwann genug hatte.)
    Zeiten und Vorstellungen ändern sich… Und wenn die Leute Spass daran haben nach über hundert Jahren Spekulationen auszutauschen, ist das (kann das) amüsant und unterhaltsam(sein), wie bei Dir.
    Liebe Grüße
    Nina

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  4. Lilith

    Liebe Karo,

    ich hoffe, es geht Dir wieder gut und ich freue mich, dass die Bakerstreetblogs in eine neue Runde gehen.
    Du hast wieder einen interessanten Eintrag geschrieben und ich bewundere Deinen „diplomatischen“ Tenor. Ich hätte das nicht gekonnt, denn ich bin, um Deine Worte zu nutzen, in der Hinsicht „emotional sehr aufgeladen“ 😉 . Was für mich eigentlich eher untypisch ist, denn ich bin normalerweise durchaus in der Lage, mir andere Meinungen anzuhören/durchzulesen und meinetwegen auch konstruktiv zu diskutieren. Und wenn das nicht geht, nutze ich eigentlich sehr effektiv die Scroll-Funktion. Allerdings haben mir insbesondere die JohnLockers das Forum zur BBC Sherlock Serie sehr verleidet, weil sie nahezu jeglichen Thread infiltrierten (obwohl das natürlich vehement bestritten wurde). Und Du hast vollkommen recht, man kann ja seine eigenen Fan Fictions schreiben und mit den gleichgesinnten Shippers ohne Ende darin schwelgen, aber leider wurde es so diskutiert, dass es genau DAS ist, was uns gezeigt wird und dass man ja wohl blind sein muss, um es nicht zu sehen und dass es definitiv „end game“ sein wird etc pp. … das hat mich wirklich extrem angenervt.

    Ich habe mir vorher nie Gedanken über Holmes‘ Sexualität gemacht, da ich es einfach akzeptiert habe, dass dieses Thema nun mal (endlich mal) keine Rolle spielt in den Conan Doyle Geschichten.
    Was mich persönlich aber wohl am meisten an dieser Diskussion ärgert, ist, dass diese Interpretation die wunderbare, tiefe Freundschaft zwischen Holmes und Watson versext. Sind denn nur heute Freundschaften nichts mehr wert? Sind denn wirklich nur romantische Beziehungen, die dann immer auch irgendwie zwangsläufig ins Bett führen müssen, irgendwie interessant? Ich persönlich pflege sehr gute Freundschaften seit vielen Jahren mit Menschen, an denen ich sexuell nie interessiert war. Und ich finde das völlig normal. Außerdem halte ich das auch nicht für außergewöhnlich.

    Ich halte Watson und Holmes für engste Freunde, die sich gegenseitig ergänzen und die sich eng verbunden fühlen, auch wenn sie so unterschiedlich sind. Die füreinander da sind und sich umeinander sorgen. Die sich brauchen und wertschätzen. Denn schließlich:

    „Der wahre Freund allein
    Ist doch das höchste Gut auf Erden
    Ein Freund, ein guter Freund
    Das ist das Beste, was es gibt auf der Welt
    Ein Freund bleibt immer Freund
    Und wenn die ganze Welt zusammenfällt
    Drum sei auch nie betrübt
    Wenn dein Schatz dich nicht mehr liebt
    Ein Freund, ein guter Freund
    Das ist der größte Schatz, den’s gibt“

    oder auch:

    „Wem der große Wurf gelungen,
    Eines Freundes Freund zu sein;“

    Es gibt so viele verschiedene zwischenmenschliche Interaktionen aller Art, dabei spielt doch wirklich nicht immer die Sexualität eine Rolle. Ich finde es sehr entspannend, wenn mal kein „love interest“ dabei ist.

    Fazit: Ich halte Holmes und Watson für enge Freunde. Und im Falle Irene Adler denke ich auch, dass sie Holmes vorallem Respekt abnötigt (und das noch als Frau!!! DIE Frau eben.)
    Und ob Holmes nun asexuell ist, weiß ich nicht, aber er hat den unglaublichen Vorteil, fiktiv zu sein und sich deshalb nicht mit ungewollten menschlichen Trieben und Bedürfnissen herumplagen zu müssen. Er muss zum Beispiel auch nie mal dringend aufs Örtchen 😉 … zumindest lesen wir nichts davon. Wird aber nirgendwo heiß diskutiert 😉

    Liebe Grüße (und sorry, dass ich ziemlich gerantet habe und auch mehr Bezug auf DIE Serie genommen habe, musste mal raus, hehe)

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  5. kai

    Sehr interessanter und gut geschriebener Artikel, vielen Dank dafür!
    Du schreibst ja, dass der damalige Sprachgebrauch ein anderer als heute war…und damit (no pun intended!) komme ich zu meinem Lieblingswort im Kanon. Holmes und auch der gute Doktor ejakulieren in den Stories und Romanen ziemlich oft, und ich muss beim Lesen immer wieder grinsen. Stephen Fry hat es in der Quizsendung QI so auf den Punkt gebracht:

    Watson ‘ejaculates’ twice as often as Sherlock Holmes in Conan Doyle’s stories. There are 23 ejaculations in total, with 11 belonging to Watson. On one occasion, Holmes refers to Watson’s ‘ejaculations of wonder’ being invaluable; on another, Watson ejaculates ‘from his very heart’ in the direction of his fiancee. Holmes is only responsible for six ejaculations, although it is not clear which of the two men ejaculate in the passage below: ‘So he sat as I dropped off to sleep, and so he sat when a sudden ejaculation caused me to wake up, and I found the summer sun shining into the apartment. The pipe was still between his lips…’ A chap called Phelps ejaculated three times during the story of ‘The Naval Treaty.’ The only other ejaculator is Mrs. St. Clair’s husband, who ejaculates at her from a second-floor window in the story ‘The Man with the Twisted Lip’.

    I rest my case.

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  6. Miss Booleana

    Ha, spannendes Thema 😀 Als ich vor inzwischen erstaunlich vielen Jahren anfing BBCs Sherlock zu schauen, war ich auch ein leidenschaftlicher Sherlock-Shipper. Aber ein Streiter war ich nie so wirklich. Nerdrage hat mich immer etwas verwundert. Schließlich wissen wir ja eigentlich alle, dass wir da über fiktive Figuren fachsimpeln … den Reiz des Fachsimpelns will ich aber auch nicht abstreiten 😉
    Aber wie dir geht es mir auch – ich finde die Geschichte gerade so gut, weil sie sich nicht in übliche Muster pressen lassen im Sinne von „Er brauch eine Frau an seiner Seite“ oder „Ein love interest würde die Geschichte abrunden“. Es ist einfach die Geschichte zweier auf unterschiedliche Art cleverer Geister. Was mich auch etwas ärgert ist, wenn man sich partout nicht vorstellen kann, dass ein Mensch sein Lebenselixir aus etwas anderem als Beziehungen zieht. Vielleicht brauch Sherlock keine Umarmungen oder Sex zum Leben, sondern verlangt mehr danach, dass sein Hirn stimuliert wird. Dahingehend fand ich auch die Geschichte mit Irene Adler immer sehr hanebüchen. Letztendlich ist sie auch nur eine Frau, die in einer Geschichte Erwähnung findet. Eine Geschichte von so arg vielen. Man muss einfach mal die Schubladen weglassen …

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    1. Karo

      Ich bin total bei dir! Der gute Sherlock hat vielleicht einfach kein Interesse an Zuneigung und Sex. Ich finde es eigentlich ziemlich angenehm wenn eine Geschichte auch mal ohne diese Themen auskommt. Aber vielleicht ist das schlecht für die Einschaltquoten? Ich weiß es nicht…

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  7. Blogophilie November 2018 | Miss Booleana

    […] Sherlock Holmes und die ewige Frage nach seiner Sexualität Je nachdem wen man fragt, bekommt man auf diese Frage eine sehr unterschiedliche Antwort. Viele Fans von BBCs Sherlock werden wohl antworten er wäre homosexuell und in einer unausgesprochenen Liebschaft mit seinem John Watson. Wiederum andere sagen ganz klar: Irene Adler. Karo hat auf ihrem Blog Fiktion fetzt analysiert, welche Beweise es für welche Annahmen gibt. Und meine Meinung? Ich sage: lasst den fiktiven Mann doch mal in Ruhe, der braucht nur das sein Hirn stimuliert wird. 🙂 […]

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