Jonathan Coe: Middle England – Menschsein im Brexit-Land

Als ich am 24. Juni 2016 aufwachte, war die allererste Handlung des Tages der Griff zum Handy. Großbritannien hatte abgestimmt und die Stimmen waren über Nacht ausgezählt worden. Die niederschmetternde Nachricht brauchte ein paar Sekunden, um einzusinken. Das, was ich bis zum Schluss nicht für möglich gehalten hatte – oder vielleicht nicht glauben wollte – war eingetreten: Die Mehrheit der Briten hatte sich für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Der Brexit war beschlossen. Ich stand ein wenig unter Schock – genau wie vermutlich der Rest Europas und die 48% der Briten, die gegen den Brexit gestimmt hatten.

Ein Jahr zuvor war ich drei Wochen lang durch Großbritannien gereist. Alle drei Tage fuhr ich mit dem Zug weiter in eine andere Stadt. Auf meinem kleinen Selbstfindungstrip wanderte ich durch die Straßen von Brighton, Bath, Cardiff, Manchester, Glasgow, Edinburgh, York und schließlich London und verliebte mich jeden Tag ein bisschen mehr. „Ich würde hier gern leben“, war der Gedanke, der sich mir ins Hirn brannte. Aber mittlerweile frage ich mich: Will ich das immer noch? Was für ein Land entscheidet sich mehrheitlich für einen solchen Schritt? Warum stimmt man für Isolation statt für Gemeinschaft? Wie kann es dazu kommen?
Diese und andere Fragen versucht Jonathan Coe in seinem Roman Middle England zu ergründen. Zwei Jahre dauern die Brexit Verhandlungen, Verwirrungen und Vorbereitungen nun schon an. Genug Zeit für Coe, einen Roman zur Lage der Nation zu schreiben, der sich trotz kleiner Schwächen sehen lassen kann.

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In Middle England begleiten wir verschiedenste Charaktere in der turbulenten Zeit vor, während und nach dem Brexit Referendum. Von rivalisierenden Clowns, über Junior PR Sprecher aus Camerons Stab, bis zu Wirtschaftsmathetikern, ist alles dabei. Aber bei einigen Figuren verweilen wir ein wenig länger, bekommen einen Einblick in ihr Leben und sehen die Welt aus ihren Augen. Darunter ist der Autor Benjamin Trotter, der in seiner eigenen kleinen Welt lebt; seine Nichte Sophie, eine junge Akademikerin, die sich in einen Fahrschullehrer verliebt, der andere politische Ansichten vertritt als sie und der linkspolitische Journalist Doug, der in seinem millionenschweren Anwesen lebt und den Bezug zu den Problemen des „Mannes auf der Straße“, die er in seinen Texten erörtern will, verloren hat. Wir treffen außerdem Bens Vater, Collin, der dem alten England nachtrauert und Sophies Schwiegermutter Helena, die sich vor den Rivers of Blood fürchtet, die Enoch Powell in einer Rede 1968 heraufbeschwor.

Wer schon Coes Bücher The Rotters‘ Club und The Closed Circle gelesen hat, wird sich sicherlich freuen, hier auf altbekannte Charaktere zu treffen und zu sehen, was aus Benjamin, Doug, Lois und Co. geworden ist. Allerdings ist es keineswegs notwendig, die Vorgänger gelesen zu haben. Ich wusste beispielsweise nicht einmal, dass die Jugendjahre einiger Charaktere schon in zwei Büchern vorgestellt wurden. Denn die Figuren erscheinen auch ohne diese Backstory gut abgerundet, bewegen sich frei in der Geschichte und funktionieren ohne Wissen zu ihrer Vergangenheit. Alles, was man wissen muss, ergründet Coe in Middle England. Allerdings ist es sicherlich spannend zu lesen, was die jungen Helden von damals so treiben, jetzt, wo sie über 50 sind.

Middle England beginnt 2010, erstreckt sich über die Unruhen von 2011, den kurz aufblühenden Nationalstolz während der olympischen Spiele 2012, die Wiederwahl Camerons 2015, bis in die Zeit kurz nach dem Brexit-Beschluss. Das zentrale Thema ist dabei, wie das Politische und die Lage der Nation das Leben der Charaktere beeinflusst und verändert. Wir sehen beispielsweise, wie der in sich gekehrte Autor Benjamin beginnt, sich erstmalig für etwas zu interessieren, das nicht mit sich selbst oder der Verarbeitung seiner gescheiterten Liebesbeziehung zu tun hat. Wir sehen außerdem, wie Nachrichtensendungen Panikattacken auslösen, weil sie alte Wunden aufreißen. Wir sehen auch, wie sich Familienmitglieder durch politische Ansichten und Diskussionen voneinander entfernen. Man kennt ja vielleicht diesen Moment totaler Entfremdung, wenn jemand, den man liebt, eine Meinung vertritt, die so fernab dessen ist, was man für gut und richtig hält. Im Falle von Sophie und ihrem frisch gebackenen Ehemann, Ian, enden die unterschiedlichen Ansichten zum Brexit in einer Paartherapie. Nicht, weil sie unterschiedlicher Meinung sind, sondern weil die Brexit Haltung für sie andere Dinge offenbart: Ian hält Sophie für naiv, für einen – wie man hierzulande sagt: Gutmenschen – und für Sophie beweist Ians Brexit Entscheidung, dass er nicht der aufgeschlossene Mann ist, für den sie ihn gehalten hatte.

Das Buch greift dabei natürlich Themen auf, die für Großbritannien in der Vergangenheit relevant waren und es heute mehr denn je sind. Klassengesellschaft, Public vs. State School, Einwanderung, Sitten und Traditionen, die Rolle der Medien, Terrorismus und der Nordirlandkonflikt werden alle behandelt oder zumindest angerissen. Zum Beispiel in Artikeln des Journalisten Doug oder bei Erinnerungen an die Bombenanschläge von Birmingham 1974. Mehr als einmal habe ich das Buch beiseite gelegt, um noch einmal fix ein paar Dinge nachzulesen – zum Beispiel über die Unruhen und Aufstände von 2011, das tödliche Attentat auf die Abgeordnete Jo Cox 2016 oder ganz einfach über das Schul- oder Sozialsystem in Großbritannien. Gerade wenn man also nicht aus Großbritannien stammt, schafft es Coe in seiner Erzählung den Weg zum Brexit und die Lage der Gesellschaft gut und facettenreich zu beleuchten.

Aber beim Brexit angekommen, bleibt die Sicht auf die Dinge recht einseitig. Wer von Middle England einen echten Brexit Diskurs erwartet, wird vielleicht eine Spur enttäuscht sein. Denn letztendlich sind fast alle Charaktere hier gegen den Brexit – es sind sogenannte „Remainers“. Die Ausnahme bilden die beiden Figuren aus der Großeltern-Fraktion, die einfach Angst vor Veränderung haben und ihr gutes altes England zurückhaben wollen und Ian, der für den Block ‚uninformiert und unreflektiert‘ steht. Ein weißer Mann, der denkt, er müsse zurückstecken, weil die Ausländer kommen und nun beruflich wegen „politischer Korrektheit“ bevorteilt werden.
Natürlich steht es außer Frage, dass es diese Lager tatsächlich gibt und dass sie maßgeblich zum Ergebnis des Referendums beigetragen haben. Aber ihre Argumente sind eben irrational – das zeigt das Buch auch noch einmal deutlich. Was ich mir gewünscht, oder von einem State-of-the-Nation-Roman vielleicht auch erwartet hätte, ist eine größere Vielfalt an Meinungen. Natürlich ist es durchaus legitim, dass sich die Ansichten des Autors in seinem Werk niederschlagen, aber in einem Roman, der die Lage der Nation ergründet, hätte ich zum Beispiel gerne eine Figur gesehen, deren Argumente für den Brexit ich, zumindest im Ansatz, hätte nachvollziehen können. Einen Landwirt zum Beispiel, der bei der Verteilung der EU Subventionen leer ausgegangen ist. Interessant wäre auch eine Figur, die das Lager der Nichtwähler vertritt. Vielleicht einer der jungen Menschen, die zur Zeit der Abstimmung auf dem Glastonbury Festival gefeiert haben, anstatt aktiv am demokratischen Prozess teilzunehmen und nun mit den Konsequenzen leben müssen. So viele Charaktere Coe uns auch vorstellt, so wenig verschiedene Facetten des Brexits zeigt er uns.

Doch das, was er uns zeigt, zeigt er uns gekonnt. Er setzt dabei mal auf Humor und Satire (der Junior PR Sprecher Camerons ist beispielsweise nicht viel mehr als eine Karikatur seiner Zunft) und mal auf schonungslose Ehrlichkeit. Zum Beispiel, wenn eine polnische Frau auf offener Straße angespuckt wird und niemand eingreift. Coe kneift dabei auch gerne ins Weltbild. Wenn Sophie davon schwärmt, wie multikulturell und aufgeschlossen London und Großbritannien insgesamt sind, wird sie von ihrem besten Freund, der aus Sri Lanka stammt, daran erinnert, dass sie dieses Bild vielleicht nur hat, weil sie selbst weiß ist und sich daher eher selten mit der Abschätzigkeit anderer abgeben muss, die ihm jeden Tag begegnet.

Was ich an Coes Middle England aber besonders beeindruckend fand, hatte weniger mit dem Brexit oder der Spaltung des Landes oder überhaupt mit Politik zu tun. Es sind die Momente des Menschseins, die Coe so wunderbar authentisch mit den Erlebnissen seiner Charaktere einfängt. Die Reise der Figuren durch diese Geschichte ist gespickt von kleinen Momenten des Zweifels, der Schwäche, des Haderns, der Angst, der Ungewissheit und mit großen Gefühlen, Zusammenbrüchen und Selbsterkenntnissen. Der Moment, in dem man erkennt, dass man zu lange gewartet hat, um zu handeln. Der Moment, in dem alles zusammenbricht, an das man geglaubt hat. Der Moment, in dem man erkennt, dass man zwar im selben Land wie andere, aber nicht in derselben Realität lebt. Coe fängt Gefühle und Gedanken ein, die man zwar kennt, aber oft nicht in Worte fassen kann. Er schreibt dafür mal große, malerische Szenen (zwei Geschwister, die auf einem Hügel die Asche der Eltern verstreuen) und kleine, aber nicht weniger eindringliche (wenn Benjamin klar wird, warum sein bester Freund immer einen Schlafsack im Auto liegen hat) mit einer schnörkellosen Intensivität, die mir mehr als einmal unter die Haut ging.

Ja, Middle England ist ein Buch über Politik und den Brexit – auch wenn die Sicht auf die Dinge ein wenig einseitig bleibt. Aber seine wirkliche Wucht entfaltet der Roman, wenn es um andere Themen geht. Es ist ein Buch über Liebe, Familie, Verständnis, die Suche nach Sinn und Wahrheit, über Emotionen und Erkenntnisse. Kurzum: Es ist ein Buch, das das Menschsein einfängt. Genau das ist es, was ich mir von einem Roman wünsche – Lage der Nation hin oder her. Daher gibt es von mir, für alle Freunde zeitgenössischer Literatur, eine klare Leseempfehlung!


Infos zum Buch

Titel: Middle England
Autor: Jonathan Coe
Verlag: Viking
Erstveröffentlichung: November 2018
ISBN: 978-0241309469
Deutscher Titel: Bisher nicht erschienen

There are 5 comments

  1. ninakol.

    Sicher kein einfaches Thema. Schon in Zeiten ohne Eu/Eg ich auf der Insel gewesen und auch danach. Als Tourist merkt man ja nicht so viel. Aber die Wirtschaft…. Und warum doch sonviele Briten für den Austritt gestimmt haben. Dahinterschauen.
    Danke für die Empfehlung eines sichern nicht so einfachen Themas.
    Liebe Grüße
    Nina

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  2. drwhogeschichte

    Klingt nach einem guten Buch, dass das Thema „Brexit“ mal aus einer etwas anderen Sicht beleuchtet. Wer sich grad beim Thema Brexit für englisch-europäische Geschichte interessiert, dem kann ich auch das Buch „Endstation Brexit“ empfehlen. Endlich mal wieder ein Geschichtsbuch bei dem ich nicht nur schlauer geworden bin, sondern auch herzhaft gelacht habe.

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  3. Daniela, der Buchvogel

    Eine lesenswerte Rezension. Ich bin auch gespannt, wie es mit GB weitergeht und verstehe die Brexiter auch nicht wirklich, muss ich sagen. Besonders bemerkenswert finde ich folgenden Satz von dir, der die Lage sicherlich perfekt zusammenfasst: „der Moment, in dem man erkennt, dass man zwar im selben Land wie andere, aber nicht in derselben Realität lebt.“ => Zitat of the day!

    LG
    Daniela

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    1. Karo

      Danke Dir, liebe Daniela 😊 Ich bin auch super gespannt, wie es weitergeht. Viel Zeit haben die Briten ja nun nicht mehr und Frau May bekommt ihren Deal nicht im Parlament durch. Echt eine verfahrene Situation.

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