Die Stimme im Hintergrund: Filmmusik und wie sie uns beeinflusst

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Zwei Männer stehen sich gegenüber, schauen sich in die Augen, keiner von beiden blinzelt, sie atmen schwer. Im Hintergrund: Dramatische, spannungsgeladene Musik. Die beiden sind kurz davor, auf einander loszugehen – der erste Schlag steht kurz bevor. Das ist eindeutig. Doch ändern wir die Musik – sagen wir mal in eine romantische, vielleicht sogar leicht erotisch aufgeladene Melodie – sind diese beiden ebenso eindeutig kurz davor, sich zu küssen.
Anhand dieses kurzen Beispiels lässt sich gut erklären, worum es heute gehen soll: Musik und wie sie unsere Wahrnehmung beeinflusst. Genauer: Wie Filmmusik unsere Wahrnehmung von Filmen beeinflusst. Denn es sind nicht nur Kamera, Dialog und Schauspieler:innen, die bestimmen, wie wir einen Film erleben, sondern es ist auch die Musik, die unsere Emotionen lenkt. Dabei bleibt sie freilich stets im Hintergrund. Wie ein beinahe omnipräsenter Kommentar führt sie uns durch eine Geschichte. Grund genug, einmal einen Blick auf die (meistens nicht ganz so stille) Begleiterin zu werfen. Dazu machen wir zunächst einmal einen kleinen Ausflug in die Geschichte der Filmmusik und schauen dann, welche Funktionen sie heute innerhalb eines Films innehaben kann.

spotify-3384002_1280Sidenote: Ich habe für diesen Artikel eine Spotify Playlist vorbereitet, in der sich einige Tracks befinden, über die ich später sprechen werde: Klick HIER. Immer wenn es in der Playlist was zu hören gibt, sind die Titel unterstrichen. Aber keine Sorge, falls ihr keinen Spotify Account habt. Viele dieser Melodien sind so ikonisch, dass ihr sie sowieso alle kennt. Also auf geht’s.

Eine kurze Geschichte der Filmmusik

Die Geschichte der Filmmusik reicht bis in die Zeit des Stummfilms zurück. Denn schon bevor das Publikum die Schauspieler:innen sprechen hörte, wurden Filmvorführungen live durch Pianisten oder ein ganzes Orchester im Saal begleitet. Einerseits natürlich, um Pausen zu füllen, andererseits, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, vollends in den Film einzutauchen. Die Verbindung von Bild und Sound machte das Filmerlebnis intensiver und spektakulärer. Hinzu kam ein pragmatischer Grund: Die Projektoren waren ziemlich laut und die Musik übertönte diese Geräusche.
Aber diese Musik unterschied sich recht stark von der eigens für einen Film komponierten Musik der heutigen Zeit. Die Musiker:innen improvisierten entweder oder sie spielten bereits existierende Stücke, die zum Film passten. Kam im Film beispielsweise eine Verfolgungsjagd vor, wurde etwas Schnelles gespielt, war der Held im Bild, spielten die Musiker:innen ein triumphales Stück. Sie
erhielten dazu manchmal vorab von den Filmstudios und -verleihern Vorschläge, welche Art von Musik zum Film passen könnte.
Der erste Stummfilm mit einer eigens komponierten Filmmusik war
L’Assassinat du duc de Guise (Die Ermordung des Herzogs von Guise) aus dem Jahr 1908, für den der legendäre französische Komponist Camille Saint-Saëns die Musik schrieb.

Mit dem Aufkommen der sogenannten „Talkies“ (Sprechfilme), wandelte sich auch die Nutzung von Musik im Film. Durch die Vereinigung von Bild und Ton boten diese Filme den Filmemacher:innen mehr Kontrolle darüber, wie sich ein Film beim Publikum anfühlen würde. Die Idee einer speziell für einen Film geschriebenen Musik, die in jeder Vorführung gleich war, wurde immer populärer. Der erste Talkie mit einer solchen Musik war King Kong (1933) mit der Musik von Max Steiner.

King_Kong_vs_Tyrannosaurus
In den 50er und 60er Jahren kam eine neue Komponente der Filmmusik hinzu: Marketing. Titellieder wurden im Vorfeld speziell für Filme produziert und konnten zur Promotion eines Films im Radio und Fernsehen genutzt werden. Ein Beispiel aus dieser Ära wäre beispielsweise das Titellied Moon River (1961) aus Breakfast at Tiffany’s (Frühstück bei Tiffany). Mit solchen Songs konnte das Publikum ein Stück des Films außerhalb des Kinos hören und gewissermaßen besitzen. Ein Konzept, das immer beliebter wurde: In den Siebzigern begeisterten die Bee Gees mit dem Song Stayin‘ Alive aus dem Film Saturday Night Fever (1977) das tanzwütige Publikum außer- und innerhalb des Kinos, der Song Ghostbusters (1984) von Ray Parker Jr.  zum gleichnamigen Film zieht auch heute noch jeden Kinofreak auf die Tanzfläche, und so ziemlich jeder kann My Heart Will Go On aus Titanic (1997) lautstark mitsingen. Near, far, whereeeeever you are… (Haha, ihr habt jetzt einen Ohrwurm!)

Aus der zunehmenden Beliebtheit von Titelsongs in Filmen entwickelte sich der „Compilation-Score“ als Alternative zum „Original Score“ (also der eigens komponierten und meist durch ein Orchester eingespielten Fillmusik). Compilation-Scores sind eine Zusammenstellung von bereits existierenden Liedern und speziell für den Film geschriebenen Songs. Derartige Soundtracks erfreuen sich heute großer Beliebtheit – man denke da zum Beispiel an den mittlerweile kultigen Soundtrack zu Guardians of the Galaxy. Was aber nicht heißen soll, dass Original Scores damit ausgesorgt haben. Nein, Komponisten wie John Williams, Alexandre Desplat und Hans Zimmer wird die Arbeit in nächster Zeit nicht ausgehen. Denn Musik, insbesondere, wenn sie speziell für einen Film komponiert wurde, ist für viele Kinoabenteuer unabkömmlich. Warum man nur schwer auf sie verzichten kann, schauen wir uns jetzt an.

Was Musik in Filmen leistet

Nun mag Filmmusik nicht das hervorstechendste Merkmal eines Filmes sein. Man konzentriert sich mehr auf die Schauspieler:innen oder die Kamera oder auf die visuellen Effekte. Wie wichtig Musik jedoch ist, merkt man deutlich, wenn man sie sich wegdenkt. Szenen wirken merkwürdig leer und kalt. Man kann Stunden damit verbringen, sich auf YouTube ikonische Filmszenen anzuschauen, bei denen jemand die Musikspur entfernt hat. Das Ergebnis ist meistens unbehaglich oder unfreiwillig komisch. Schaut euch zum Beispiel mal diese Szene aus ET ohne Musik an:

Awkward, oder?

Ohne Musik fehlt etwas. Das hat nicht nur damit zu tun, dass wir es eben gewohnt sind, Musik in einem Film zu hören, sondern auch damit, dass Musik den Filmemacher:innen hilft, eine Geschichte zu erzählen. Grob gesagt, kann Musik dabei unterstützende und lenkende Funktionen haben. Es gibt unzählige Dinge in einem Film, die durch Musik hervorgehoben oder beeinflusst werden – sie alle aufzuzählen würde ewig dauern. Die in meinen Augen wichtigsten sind diese hier:

Wiedererkennung

Um mal mit dem offensichtlichsten Punkt zu beginnen: Filmmusik verleiht einem Film mit einen Wiedererkennungswert. Wir alle wissen, wie The Godfather (Der Pate) klingt, wie sich Jurassic Park anhört und bei John Carpenters Theme zu Halloween bekommen wir sofort Angst vor Michael Myers. Es sind ikonische Klänge, mit denen uns die Komponist:innen erlauben, gedanklich immer wieder in die Welt dieser Filme zurückzukehren. In meinem Gesicht breitet sich beispielsweise ein breites Grinsen aus, sobald die ersten Noten von Alan Silvestris Filmmusik zu Back to the Future (Zurück in die Zukunft) erklingen – weil der Film zu meinen All Time Favourites gehört.

Für Komponist:innen ist das Erschaffen solch ikonischer Musik freilich keine einfache Aufgabe. Denn schließlich steht die Musik selten im Vordergrund eines Films. Sie muss also während des Schauens eines Filmes so präsent sein, dass wir sie wahrnehmen, aber nicht so sehr, dass wir von den Bildern und der Story nichts mehr mitbekommen. Und so einprägsam, dass wir sie uns sofort merken, aber nicht so eingängig, dass sie durch jeden beliebigen Ohrwurm ersetzt werden kann. Es ist ein Drahtseilakt, den Komponist:innen da für uns performen. Gelingt dieser, ist die Musik eine Möglichkeit, einen Film von anderen abzugrenzen, ihn unverwechselbar zu machen. Hören wir diese Musik erneut, erinnern wir uns meist herrlich nostalgisch an den Film zurück und werden vielleicht von der Lust gepackt, uns diesen Film noch einmal anzusehen.

Einordnung von Epoche, Genre und Region

Musik trägt außerdem dazu bei, eine Geschichte in einer bestimmten Epoche, einer geografischen Region oder einem Genre zu verankern. Das sorgt nicht nur für ein authentischeres Filmerlebnis, sondern gibt dem Publikum auch eine gute Möglichkeit, sich zu orientieren.
So haben zum Beispiel Western-Filme einen spezifischen Klang – romantisch-heroische Melodien, vermischt mit dramatischen Klängen zum Showdown. Wie zum Beispiel in der Musik zu The Good, the Bad and the Ugly (Zwei glorreiche Halunken).
Zusätzlich ist Musik in der Lage, einen bestimmten Film geographisch und zeitlich einzuordnen, oder diese Einordnung, die ja auch durch Setdesign, Kostüme oder ähnliches erfolgt, zu unterstützten. So gibt uns Musik manchmal einen deutlichen Hinweis darauf, wo auf der Welt eine bestimmte Szene spielt. Wenn z.B. irisch klingende Musik während einer bestimmten Szene zu hören ist, können wir leicht erkennen, wo sie zu verorten ist – sodass beispielsweise den Setdesignern ein wenig Arbeit abgenommen werden kann.  Wir hören dabei, insbesondere in Filmen mit Comedy-Einschlag, jedoch oft nur Musik, von der das Publikum denkt, sie wäre typisch für eine bestimmte Region. Spielt eine Szene eines solchen Films in Deutschland hört man oft mehr oder weniger deutlich Blasmusik – obwohl die wenigsten von uns hier wohl tatsächlich Blasmusik hören, oder auf der Straße ständig an Blasmusikkapellen vorbeigehen. Es ist also manchmal nur eine Form von Pseudo-Authentizität, die die Musik uns da bereitstellt – wenngleich sie natürlich trotzdem wirkungsvoll ist. Ebenso wirkungsvoll wie der Ort, können natürlich auch Zeit und Epoche durch die Musik bestimmt werden. Musik, die sehr barock klingt, versetzt uns beispielsweise ins 18. Jahrhundert zurück und jazzige Up-Tempo Nummern, versetzen uns in die 20er Jahre usw.

Meist geht die musikalische Bestimmung von Ort, Zeit und Genre Hand in Hand. So kann man zum Beispiel in der Filmmusik von Hans Zimmer zum Sherlock Holmes Film ganz deutlich hören, dass dies keine Adaption ist, die den berühmten Detektiv in ein modernes Setting versetzt. Es klingt viktorianisch, aber gleichzeitig aufregend – passend zum Steam-Punk Einschlag des Films. Die Musik klingt auch ein wenig geheimnisvoll – es gibt hier also Rätsel zu lösen. Die Tempowechsel sorgen für Spannung und das Wechselspiel zwischen Streichern und Bläsern sorgt für eine beinahe komische Note: Ein actiongeladener Comedy-Steampunk-Detektiv Film – das können wir schon von der Musik ableiten, ohne den Film überhaupt gesehen zu haben:

Akzente, Tempo und Bewegung

Eine der offensichtlichsten unterstützenden Funktionen von Musik in Filmen ist außerdem, dass sie genutzt werden kann, um Bewegungen zu unterstreichen. Das kann eher subtil geschehen, beispielsweise dadurch, dass die Musik immer schneller wird, je schneller eine Figur rennt. Es kann auch so weit gehen, dass jede Bewegung, die auf dem Bildschirm zu sehen ist, mit einem korrespondierenden Sound in der Musik ausgestattet wird – zum Beispiel mit einem Xylophon-*Pling*, wenn jemand die Augenbraue hochzieht. Diesen Extremfall nennt man „Mickey-Mousing“. Aus dieser Bezeichnung kann man auch schon schließen, dass dies sehr cartoonhaft wirkt und sich nicht für jeden Film eignet, aber zum Beispiel in Slapstick-Momenten sehr wirkungsvoll sein kann, wenn es gut gemacht ist.

Verknüpfung

Filmmusik hilft außerdem, Szenen zusammenzufügen. Eher harte Szenenwechsel können durch das Hinzufügen von Musik abgemildert werden. Eines der Extreme dieser Funktion sind Montagen, die durch die Musik zusammengehalten und daher vom Publikum als Ganzes wahrgenommen werden. Eines der ikonischsten Beispiele ist die „Training Montage“ aus dem Film Rocky zum Lied Gonna Fly Now vom Komponisten Bill Conti.

Verknüpfungen entstehen außerdem durch die Verwendung von Leitmotiven. Wenn Charaktere, Situationen oder Orte bestimmte musikalische Melodien und Motive erhalten, hilft das dem Publikum, Handlungspunkte miteinander zu verbinden. Dabei werden die Melodien je nach Kontext und Szene abgewandelt. So ändern sich Rhythmus oder Notenwert, sie sind aber dennoch motivisch verwandt und erkennbar. Ein Charakter mit einem sehr prägnanten und ikonischen Leitmotiv ist der Spion James Bond. Das Leitmotiv – ursprünglich aus der Titelmelodie zu James Bond: 007 jagt Dr. No stammend – zieht sich dabei nicht nur durch die Musik eines Films, sondern beinahe aller James Bond Filme. Wenn wir die Melodie hören, wissen wir genau: Es ist Bond. James Bond.
Es muss aber natürlich nicht so offensichtlich sein, damit Leitmotive funktionieren, sondern geht aus subtiler. Wenn der Bösewicht ein musikalisches Thema bekommt und wir dieses Thema später wieder im Film hören, wenn jemand über einen „Fremden“ spricht, bekommen wir einen sehr klaren Hinweis darauf, wer dieser Fremde sein könnte.

Atmosphäre

Eine der wichtigsten Funktionen von Musik ist, dass sie eine Atmosphäre eines Films beeinflussen und unterstreichen kann. Natürlich sind in der Zeichnung einer der Atmosphäre in einem Film verschiedenste Faktoren beteiligt – angefangen von den Dialogen über das Szenenbild bis zur Kamera. Aber die Musik ist dabei mindestens genauso wichtig. Man nehme da zum Beispiel die nunmehr oscarprämierte Musik aus dem Film Joker von Hildur Guðnadóttir. Die düstere Atmosphäre ist es, die den Film auszeichnet – und die wird zu einem großen Teil durch die großartige Filmmusik erzeugt. Sicherlich tragen auch Kamera, Schaupieler und Setting dazu bei. Aber es würde ihnen nur halb so gut gelingen, wenn sie nicht von der Musik unterstützt würden. Die Musik ist bedrückend, aufreibend und dramatisch und macht den Film erst zu dem intensiven Kinoerlebnis, das er ist.

Emotion und körperliche Reaktion

Zu den stärksten und faszinierendsten Eigenschaften von Musik generell zählt, dass sie Emotionen in uns auslösen kann. Zu erklären, warum das so ist, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen – und die Wissenschaft ist auch noch immer dabei, zu erforschen, wie genau das funktioniert. Erinnerungen und Assoziationen scheinen in jedem Fall eine große Rolle dabei zu spielen. Fakt ist jedoch, dass Musik menschliche Grundemotionen wie Freude, Traurigkeit und Angst auslösen kann – und zwar so weit, dass körperliche Reaktionen wie Herzrausen, erhöhter Blutdruck und schwitzende Hände eintreten. Die Reaktionen unseres Körpers auf Töne erfolgt schnell und direkt. Besonders in Horrorfilmen und Thrillern sehen wir häufig, wie sich Komponist:innen diesen Fakt zunutze machen. Bestes Beispiel ist die Filmmusik von Bernard Herrmann zum Alfred Hitchcock Film Psycho. Die ikonische Dusch-Szene ist unterlegt mit dem Sound von quietschenden Geigen. Das ist ein Geräusch, das Menschen mit Stress und Gefahr assoziieren.

(CW: Gewalt, Blut, Mord)

Es ist beinahe unmöglich, sich von dem Alarmsignal, das durch die Musik direkt in unser Hirn katapultiert wird, zu lösen. Stress fließt uns quasi aus den Poren und es gibt nichts, was wir dagegen tun können, außer den Sound abzustellen – und wenn wir das tun, ist diese Filmszene plötzlich viel weniger intensiv.

Dass uns Musik in Alarmbereitschafft versetzten kann, wird aber nicht nur genutzt, damit wir eine bestimmte Szene besonders intensiv wahrnehmen, sondern auch, um Spannung aufzubauen. So hören wir in Jaws (Der weiße Hai) bedrohliche Musik, bevor wir überhaupt etwas Bedrohliches sehen. Durch die Musik wissen, wir: Der Hai ist auf der Pirsch und kommt immer näher. Es ist die Erwartung von Gefahr, die die Szenen unerträglich spannend und gruselig macht. Denn anders als die Figuren in den jeweiligen Szenen, werden wir durch die Musik gewarnt, dass gleich etwas Schreckliches passiert, können aber nicht eingreifen und fühlen uns deshalb machtlos und beunruhigt.

Manipulation

Da Musik einen direkten Zugang zu unseren Emotionen hat, ist sie ein geeignetes Mittel, um das Publikum eines Films zu manipulieren. Nicht unbedingt die edelste Funktion von Musik im Film, aber dennoch eine wichtige. Zweifelhafte Inhalte eines Films können durch Musik in die „richtige“ Richtung getrieben werden, wie es bei vielen Propagandafilmen der Fall war und ist. Aber die Manipulationskraft von Musik kann auch sehr geschickt eingesetzt werden. Zum Beispiel, wenn eine Figur, die als „der Gute“ dargestellt wird, in Wirklichkeit der Bösewicht ist und das erst am Ende des Filmes enthüllt werden soll. Immer, wenn wir vielleicht denken könnten, dass die Figur der Bösewicht ist, kann die Musik einspringen und uns mit heldenhaften Melodien versorgen, die all unsere Zweifel in hohem Bogen aus dem Fenster segeln lassen.

Kuleschow-Effekt: Veränderung der Wahrnehmung

Der russische Filmwissenschaftler Lew Kuleschow untersuchte in den 1920er in verschiedenen Experimenten die Wirksamkeit des Filmschnitts. Er kombinierte dazu eine Aufnahme des Schauspielers Iwan Mosschuchin mit verschiedenen anderen Aufnahmen (ein Suppenteller, ein Mädchen in einem Sarg, eine Frau auf einem Diwan). Die Aufnahme von Mosschuchin war dabei immer dieselbe, nur bewerteten die Teilnehmer:innen des Experiments seine Gesichtsausdrücke als völlig unterschiedlich. Sie lobten gar die Fähigkeit Mosschuchins, Emotionen wie Hunger, Trauer und Begierde darzustellen.

Kuleschow Effekt

Das psychologische Phänomen, bei dem Zuschauer aus der Interaktion zweier aufeinanderfolgender Aufnahmen mehr Bedeutung ableiten als aus einer einzelnen Aufnahme, bezeichnet man als Kuleschow-Effekt (im englischen Kuleshov effect). Kurzum: Das Gehirn stellt Zusammenhänge her, wo es eigentlich gar keine gibt.

Warum erzähle ich euch in einem Artikel über Filmmusik jetzt aber etwas von der Bedeutung des Filmschnitts? Nun, Musik zu einer Szene kann unsere Bewertung ebenfalls so beeinflussen, wie es der Schnitt kann. Die Forscher Baronowski und Hecht untersuchten 2016 in der Studie The auditory Kuleshov effect: Multisensory integration in movie editing ob es einen den auditiven Kuleschow-Effekt gibt. Dazu legten sie fröhliche, traurige, oder gar keine Musik auf neutrale Filmszenen. Sie stellten fest, dass die Musik signifikant beeinflusste, wie Teilnehmer:innen Gesichtsausdrücke beurteilten. So erklärt sich auch, wieso wir unserer Beispielszene aus dem Anfang des Artikels je nach Musik eine andere Bedeutung beimessen. Je nachdem, welche Musik gespielt wird, bewerten wir es anders, wenn sich zwei Männer tief in die Augen schauen. Lieben sie sich? Wollen sie sich umbringen? Die Musik entscheidet!

Das ist nicht nur faszinierend, sondern heißt auch, dass Schauspieler:innen bei der Darstellung von Emotionen maßgeblich von der Musik unter die Arme gegriffen wird. Und wir – mit unserer offenbar leicht zu manipulierenden Wahrnehmung – müssen uns fragen: Ist das tatsächlich gut gespielt oder ist es eigentlich nur die Musik, die uns das so interpretieren lässt?

Erzeugen von Widersprüchen

Nun ist es aber natürlich so, dass das Wachrufen von Empfindungen durch Filmmusik am besten funktioniert, wenn visuelle und auditive Signale zusammenpassen. Ist das der Fall, verstärkt Musik den Bildeffekt. Ist es jedoch offensichtlich nicht der Fall – passen also Musik und Bilder nicht zusammen – sind wir verwirrt. Musik, die ganz anders klingt, als wir es in einer bestimmten Szene erwarten würden, erzeugt immer ein Gefühl von „hier stimmt etwas nicht“.
Das kann auf unterschiedlichste Weise genutzt werden. Zum Beispiel um einen komödiantischen Effekt in einem Film zu erzeugen. Man stelle sich zum Beispiel eine Figur vor, die vorgibt sehr böse zu sein, deren Szenen aber immer mit schrulliger Slapstick Musik untermalt wird.
Eine nicht zusammenpassende Kombination von Bild und Musik kann aber auch dafür sorgen, dass wir uns unbehaglich fühlen. Ein junges Beispiel dafür ist der Film Jojo Rabbit. Dort werden eingangs Aufnahmen von Menschen, die Hitler bejubeln, mit poppiger Beatles Musik untermalt, sodass die Führer-Verehrung mit der Beatlemania verglichen wird. Als Zuschauer:in fragt man sich dabei: „Ja sag mal, darf man das?“ und rutscht unbequem auf dem Kinosessel umher. Ein anderes Beispiel ist der Film Clockwork Orange, in dem Szenen von extremer Gewalt mit fröhlicher klassischer Musik untermalt sind. Der Widerspruch zwischen der wohltuenden Musik und den Bildern von Zerstörung und Gewalt kreiert Anspannung und Unbehagen – und verdeutlicht so noch mehr, dass das, was in der Szene passiert, falsch und schrecklich ist.

Sonderfall: Keine Musik im Film

Nun haben wir letztendlich in den vorangegangenen Punkten gesehen, dass Musik uns beeinflusst und wie wirkungsvoll sie eine Geschichte unterstützen kann. ABER natürlich ist Musik auch ein eindeutiges Zeichen dafür, dass wir eben doch nur einen Film schauen. Schließlich hat unser Leben keinen Soundtrack. Manchmal entscheiden sich Regisseur:innen daher bewusst dazu, auf Musik zu verzichten und damit die Schutzbarriere, die die Musik aufbaut, einzureißen. So gibt es in No Country For Old Man fast keine Musik – und das ist extrem wirkungsvoll, insbesondere in den Szenen, in denen der Killer zuschlägt. Nichts zu hören, außer wie jemand um sein Leben kämpft, ist entsetzlich und wirkt unerträglich echt. Gleiches gilt für die Anfangsszene in Saving Private Ryan (Der Soldat James Ryan), in der wir nur den Kugelhagel und die Schreie der Soldaten hören. Dadurch fühlen wir uns beängstigend nah dran.

(CW: Krieg, Blut, Verletzungen)

Die Abwesenheit von Musik kann also ebenso effektiv sein, wie ihr Vorhandensein.


So! Das soll es an dieser Stelle erst einmal gewesen sein. Findet ihr das Thema auch so faszinierend? Fallen euch noch weitere Dinge ein, wie Musik Filme beeinflusst?
In der nächsten Woche geht es weiter in Sachen Filmmusik – aber dann mit einer etwas persönlicheren Note: Ich stelle euch meine liebsten Filmmusiken vor. Stay tuned.

Quellen, die mir besonders geholfen haben, diesen Artikel zu schreiben:

Baranowski, A.M., & Hecht, H. (2016): The auditory Kuleshov effect: Multisensory integration in movie editing
Now You See It: How Film Scores Play with Our Brains (Youtube-Video)
Robin Hoffmann: What is the function of film music?
Tracks and Fields: The History and Power of Soundtracks

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There are 20 comments

  1. nina. aka wippsteerts

    Ich LIEBE Filmmusik. Danke Dir für den informativen Artikel. Wer zB Mal an einer Stummfilmvorführung mit Musik im Kino teilgenommen hat, weiss, was für eine Magie Musik einfach auf uns Menschen hat. Ohne Musik kann meines Erachtens der Mensch nicht leben. Da ist es nur logisch, dass sie auch zum Stimmung machen genutzt wird. Ah, ich hab jetzt Mancini “ Walk little elegant“ im Ohr und da bohrt sich Infos „Themen“ durch und und und…
    Muss jetzt ganz dringend aufhören zu kommentieren und lieber „allways
    Liebe Grüße
    NinaLookthe bright side of life“ singen…

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    1. Karo

      Danke für deinen Kommentar. Ich bin ganz bei dir: Ohne Musik kann der Mensch nicht leben 🙂
      Zu einer Stummfilmvorführung mit Musik würde ich ja auch gerne mal! Das ist bestimmt interessant! Bei uns in Berlin gab es letztes Jahr ein paar Vorführungen von „Metropolis“ mit Live-Orchester. Das hab ich zu spät mitbekommen und mich dann total geärgert.
      Liebe Grüße

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  2. Wortman

    Kuleschow-Effekt…der ist interessant 🙂

    Musik ist das A und = eines gut funktionierenden Films oder einer Serie. Die visuelle Epik und die Musik dazu hinterlässt bei „The Fountain“ jedesmal eine Gänsehaut.

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    1. Karo

      Bin auch erst durch die Recherche zum Artikel auf den Kuleschow Effekt gestoßen. Fand ich auch sehr interessant, dass Wahrnehmung so „einfach“ zu beeinflussen ist.
      „The Fountain“ kenne ich noch gar nicht. Hab aber grad mal Trailer geschaut und in die Musik von Clint Mansell (ich liebe ja auch seine Musik zu Requiem for a Dream) reingehört. Das werd ich mir mal genauer anschauen/anhören. Danke für den Tipp 🙂

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      1. Wortman

        Also The Fountain kann ich nur empfehlen. Die Bilder und die Musik fesseln.
        Von diesem Effekt hatte ich vorher noch nie etwas gehört.

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  3. hemator

    Sehr schöne Überblicksdarstellung, Ich bin mal so frei, etwas schamlose Eigenwerbung zu machen und einen Link zu diesem Artikel von mir dazulassen, der deinen, denke ich, ganz gut ergänzt: https://hemator.wordpress.com/2018/10/03/grundlagen-der-filmmusik/#comments

    Über die verschiedenen Arten, Filmmusik kreativ einzusetzen, kann man natürlich noch sehr viel schreiben, wobei ich gerade das Erzeugen von Widersprüchen oder musikalischen Kontrapunkten sehr interessant finde. Ein schönes Beispiel dafür findet sich etwa in „Warcraft“ bzw. „World of Warcraft“ mit dem Thema des Lich-Königs Arthas. Bei dieser Figur handelt es sich um einen der größten Schurken des gesamten Franchise, aber sein Thema ist eine lieblich, tragisch angehauchte Melodie, die oft von einem Knabensopran gesungen wird: https://www.youtube.com/watch?v=BCr7y4SLhck (ab 0:45). Ein Thema das auf den ersten Blick nicht wirklich zu einem brutalen Herrscher der Untoten passt, dann aber doch seine tragische Hintergrundgeschichte widerspiegelt.

    Auch sehr interessant finde ich es, wenn sich die Musik an einer „Täuschung“ beteiligt. Das ist der Fall in der Episode „Knight Time“ aus „Superman: The Animated Series“. In besagter Episode vertritt Superman zeitweise Bruce Wayne als Batman, weil dieser aus unerklärlichen Gründen verschwunden ist. Der Score der Episode beteiligt sich an dieser Täuschung und untermalt Supermans Auftritte im Batsuit mit dem Batman-Thema des DC Animated Universe. https://www.youtube.com/watch?v=5GDvVplPEqo

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    1. Karo

      Heyho 🙂 Cool, das schau ich mir mal an!
      Ja,man könnte dazu noch richtig richtig viel Schreiben – das Thema ist mega interessant und gibt viel her (ich hab mich im Artikel mal auf einen Überblick beschränkt). Manipulation und Täuschung finde ich dabei auch mit am spannendsten – danke für die Beispiele dazu 🙂
      Viele Grüße

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  4. Nadine

    Ich habe nur das Wort Ghostbusters gelesen und hatte direkt einen Ohrwurm! Schlimm 😀
    Ich freue mich wahnsinnig auf deinen nächsten Blogbeitrag, das müsste ich auch mal schreiben! Du hast schon sehr gute Beispiele genannt und ich finde es auch immer wieder erstaunlich, was für eine Arbeit die Komponistin da haben und wie es bei den ganz großen so „einfach“ funktioniert, z. B. Harry Potter oder Herr der Ringe. Ich bewundere deinen Beitrag für die unfassbare Arbeit, Recherche und Genauigkeit, die es gemacht haben muss, dass alles zu schreiben und zu recherchieren. Weil er so allumfassend auf den Punkt ist, kann ich gar nichts mehr großartig ergänzen, außer: Danke dafür!

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  5. LeseWelle

    Hallo!
    Wow, was für ein toller Artikel. Ich mag Filmmusik, muss aber zugeben, dass ich mich mit dem Thema bis jetzt noch nicht so intensiv auseinander gesetzt habe. Aber dein Artikel wirkt gut recherchiert und zeigt mit bestimmte Dinge auf, die einem dann so im nachhinein erst so richtig klar werden.
    Liebe Grüße
    Diana

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    1. Karo

      Oh, danke dir Diana! Mir sind durch die Recherche auch noch im Nachhinein Dinge aufgefallen, die mir beim Filmschauen definitiv entgangen sind. Bin gespannt, wie ich Filmmusik jetzt so wahrnehmen werde, nachdem ich mich eingehender mit dem Thema befasst habe 😀 Liebe Grüße

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  6. Wörter auf Reise

    Was für ein Beitrag! Ich bin wirklich beeindruckt, so gut recherchiert und dargelegt, und die Idee mit der Playlist fand ich auch toll! Ebenfalls schön die Einbindung der YouTube Videos, nur meine Frage da, wie machst du das mit dem Urheberrecht? Mir wurde gesagt, dass man Videos nicht einfach einfügen kann, Trailers hingegen sind kein Problem, nur würde ich in meinen Beiträgen es auch lieber so machen wie du, weil es da den Inhalt so gut unterstützt.

    Ich liebe ja Filmmusik, ich bin auch ein Mensch, bei dem der Soundtrack eines Films häufiger hoch und runter läuft, so zeitweise der Blade Runner Soundtrack von Vergilis oder der Arrival Sountrack von Jóhann Jóhannsson. Aus Songs zusammenstellt, nicht komponiert ist 500 Days of Summer und da liebe ich den Soundtrack auch richtig, es passt einfach so perfekt und immer wenn ich eins der Lieder höre, habe ich die Szene vor Augen. In deutschen Komödien wird oft zu stark Szenen mit lauter Pop Musik unterlegt, ohne das es Sinn ergibt, bei 500 Days of Summer unterstützt es die Handlung.
    Ich bin auch der Meinung, dass Joker ohne die Musik der Isländerin nur ein mittelmäßiger Film gewesen wäre, durch ihre Musik hat es den Film in eine andere Liga gehoben. Die Bedeutung von Musik hat man auch im letzten Star Wars Movie gesehen, die Handlung war mehr mittemäßig, doch hat das John Williams Medlay einen mit schöner Nostalgie versetzt. Ansonsten ist auch the Beast von Johansonn in Sicario extrem eindrucksvoll, falls du den Film nicht kennst, gibt es dazu bestimmt ein Video auf Youtube, das Lied verleiht dem Film eine noch ganz andere Wucht. So gut geschwärmt für heute, wie du merkst ich liebe Filmmusik und könnte darüber stundenlang quatschen. Vielen Dank für deinen informativen Beitrag, ich habe vieles neues gelernt und Dinge wie Kuleschow-Effekt nochmal neu aufgefrischt. Wirklich toll, beim nächsten Film, den ich schauen werde, werde ich bestimmt viel genauer auf den Einsatz der Filmmusik achten.

    Viele Liebe Grüße

    Nadine

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    1. Karo

      Hey Nadine, danke für deinen Kommentar und das Lob 🙂 Ich schwärme auch so unglaublich gerne über Filmmusik! Schreibe auch grad noch an einem Beitrag zu meinen liebsten Musiken – u.a von Johann Johannson, Alexandre Desplat und Clint Mansell. Der Text dazu ist schon wieder viel zu lang geraten…Aber was soll man machen? 😀 Der Artikel kommt vermutlich noch diese Woche 🙂

      Zu den Video-Einbettungen: Ich bin natürlich kein Experte, aber es ist meines Wissens nach so, dass das Einbinden eines Videos an sich keine Urheberrechtsverletzung darstellt. Dazu gab es auch mal ein Urteil vom EuGH. Etwas anderes ist es nur, wenn man ein Video einbindet, das offensichtlich illegal (also ohne Erlaubnis des Urhebers) hochgeladen wurde. Das ist meines Wissens nach bei den Videos, die ich eingebunden hab, nicht der Fall. Das Video zum Sherlock Holmes Soundtrack stammt z.B. von dem Youtube Kanal des Orchesters, die ja durchaus berechtigt sind, ihre eigenen Auftritte hochzuladen. Und die beiden Filmszenen stammen vom Kanal Movieclips, in dessen Beschreibung es heißt: The MOVIECLIPS channel is the largest collection of licensed movie clips on the web. Soll heißen: Ich gucke mir die Quellen der Videos an und entscheide danach, ob das ein Video ist, was man relativ gefahrlos einbinden kann, oder nicht. Aber wie gesagt, ich bin kein Experte 😉 Woher stammt denn deine Info, dass das verboten ist?

      Liebe Grüße

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      1. Wörter auf Reise

        Oh cool, da freue ich mich schon drauf! und zu lang geht bei der Thematik nicht 😀 bekomme jetzt auch Lust darauf einen Beitrag zu meiner Liebsten Filmmusik zu schreiben.

        okay wenn es offiziele Kanäle sind dann ist es was anderes. Fan Videos hingegen sind ja in Deutschland verboten, während es in Amerika kein Problem darstellt. Freunde hatten das mal erwähnt. Muss aber auch sagen, dass mich die ganze Thematik überfordert und ich da nicht mehr ganz durchblicke was jetzt erlaubt ist, was nicht, und was eine Grauzone ist.

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  7. Tina

    Liebe Karo,
    der Beitrag steht schon länger auf meiner „read later“ – Liste, aber jetzt ist es wirklich Zeit.
    Und wow, ein großes Komliment für diesen Beitrag! Gut recherchiert, mehre Medien eingebunden, Beispiele eingebracht und ganz viel Persönlichkeit 🙂
    Ich muss sagen, mir wird gerade erst richtig bewusst, wie wichtig Filmmusik ist, für einen persönlich.
    Der Abschnitt „Wiedererkennung“ ist grandios und macht klar, was die Musikmacher eigentlich leisten und wie stolz sie darauf sein können, wenn Generationen später noch ihre Melodien gepfiffen oder gesungen werden inkl. der gesamten Filmszene im Kopf. Eigentlich total verrückt.

    Liebe Grüße
    Tina

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