Es gibt unzählige Bücher, die sich so dahinlesen und für den Moment zwar unterhaltsam sind, aber keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Das ist in Ordnung – wir alle brauchen hier und da etwas Unterhaltung. Aber im Grunde sind wir doch als Vielleser, Leseratten, Geschichtenliebhaber, Bücherwürmer oder -drachen auf der Suche nach Geschichten, die uns nicht mehr loslassen und noch lange nach dem Lesen beschäftigen, die uns mitreißen, unser Weltbild in Frage stellen, uns berühren und von denen wir sagen: ‚Das ist das Buch, nach dem ich schon immer gesucht habe!‘
Begegnungen dieser Art sind selten, aber es gibt sie. Ich hatte neulich eine: Flowers for Algernon von Daniel Keyes.
„Alter Hut!“ mag der eine oder andere jetzt vielleicht denken und hat recht. Es stimmt, ich hätte das Buch schon früher lesen sollen. Aber was soll man machen? Bücher kauft man, weil sie einem empfohlen wurden oder weil man sie beim Stöbern entdeckt hat. Bis der Goodreads-Algorithmus vor ein paar Monaten beschlossen hatte, mir dieses Buch immer und immer wieder vorzuschlagen, war das eben nicht der Fall gewesen.
Zu meiner Verteidigung möchte ich außerdem sagen, dass ich noch gar nicht geboren war als Daniel Keyes die Erzählung 1959 als Kurzgeschichte und 1966 als Roman veröffentlicht hat. Mittlerweile gilt das Buch allerdings als Sci-Fi Klassiker, wurde 27 Sprachen übersetzt und über 5 Millionen mal verkauft – einmal davon nun auch an mich. Besser spät als nie.
Flowers for Algernon erzählt die Geschichte des geistig zurückgebliebenen Charlie Gordon. Er ist 32 Jahre alt, arbeitet in einer Bäckerei und versucht in der Abendschule richtig lesen und schreiben zu lernen. Da er dort durch seine hohe Motivation auffällt, schlägt seine Lehrerin in als Teilnehmer für ein wissenschaftliches Experiment vor. Die Intelligenz soll dabei durch eine Hirnoperation gesteigert werden – ein Verfahren, das bereits an der Maus Algernon erfolgreich getestet wurde.
Das Buch wird in Form von Berichten erzählt, die Charlie täglich verfassen soll, um die Fortschritte des Experiments festzuhalten.
…I hope I get smart soon because I want to lern everything there is in the werld like the collidge boys know. All about art and politiks and god.
Die Rechtschreib- und Grammatikfehler in den Reports nehmen schnell ab, der Wortschatz wird umfangreicher und die Sätze werden komplexer. Für den Leser ein eindeutiges Zeichen für den Erfolg des Verfahrens, auch wenn Charlie anfangs noch daran zweifelt. Aber auch die Intelligenztests in den Laboren meistert Charlie immer besser und schneller und schlägt die hyperintelligente Maus Algernon schließlich sogar beim Lösen von Labyrinthen. Die Operation war ein Erfolg, das Experiment ist geglückt: Innerhalb weniger Wochen klettert Charlies IQ von 68 auf 185.
Allerdings stellt Charlie bald fest, dass Intelligenz nicht die wundersame Erfüllung all seiner Träume ist. Natürlich ist er dankbar für die Erfahrungen die er durch das Experiment machen kann. Er liest und lernt so viel er kann, spricht bald viele verschiedene Sprachen und erkennt Zusammenhänge die ihm bis dahin völlig verborgen geblieben sind. Doch er hatte eigentlich erwartet, dass Menschen ihn lieber mögen würden, wenn er intelligenter wäre. Das Gegenteil ist der Fall: je größer Charlies IQ wird, desto mehr vereinsamt er.
Seine vermeintlichen Freunde stellen sich als Idioten heraus, die nur Zeit mit ihm verbracht haben, um sich über ihn lustig machen zu können. Nun, da Charlies Intelligenz die ihrige übersteigt, wenden sie sich von ihm ab. Erkenntnisse wie diese sind hart und tun weh.
Trost und Verständnis findet Charlie allerdings bei seiner Lehrerin, Ms. Kinnian, in die er sich schließlich verliebt. Doch ein Cocktail aus zutage geförderten Kindheitserinnerungen, Charlies nach wie vor zurückgebliebene, emotionale Entwicklung und seine nunmehr überragende Intelligenz stellen die Liebesbeziehung vor schier unmögliche Herausforderungen.
I don’t know what’s worse: to not know what you are and be happy, or to become what you’ve always wanted to be, and feel alone.
Derweil werden die verantwortlichen Wissenschaftler, Professor Nemur und Dr. Strauss, von den Fachkollegen für ihren wissenschaftlichen Durchbruch gefeiert. Doch Charlie kommt es vor, als sei er nichts weiter, als eine menschliche Laborratte, die man zur Schau stellen kann. In den Augen der Wissenschaftler scheint sein Leben vor der Operation wenig wert gewesen zu sein. Charlie ist sich hingegen seines früheren Lebens und seines alten Ichs bewusster als je zuvor – der „alte“ Charlie ist noch immer ein Teil von ihm.
How can I make him understand that he did not create me?
He makes the same mistake as the others when they look at a feeble-minded person and laugh because they don’t understand there are human feelings involved.
Bald stellt sich jedoch heraus, dass die Wissenschaftler ihre Erfolge vielleicht zu früh gefeiert haben: Algernon wird zunehmend reizbar, büßt zunächst seine erlernten, dann seine motorischen Fähigkeiten ein, und stirbt schließlich. Da Charlies Intelligenz die der federführenden Wissenschaftler mittlerweile weit übersteigt, beginnt er diesen Effekt zu erforschen und muss sich dabei der Frage stellen, ob ihn das gleiche Schicksal ereilen wird.
Ob das so ist, verrate ich natürlich jetzt nicht. Nicht nur, weil es sich nicht gehört, das Ende eines Buches zu verraten, sondern weil dieses Buch es wert ist, gelesen zu werden.
Es gibt so viele Bücher, die in den Klappentexten oder auf den Einbänden von sich selbst behaupten, herzzerreißend zu sein, oder zum Nachdenken anzuregen. Flowers von Algernon muss das nicht erwähnen – der Leser wird es selbst bemerken.
Charlie ist einer dieser wunderbaren Charaktere, zu dem man als Leser sofort eine Beziehung aufbauen kann. Durch die Erzählperspektive ist man bei seinen neuen Erkenntnissen und Erfahrungen ganz nah dabei und fühlt mit – bei den guten genauso wie bei den schlechten.
Flowers for Algernon zeigt, dass der IQ, egal ob zwei- oder dreistellig, nicht der Schlüssel zum Glück ist. Aber noch viel deutlicher zeigt es, dass es nicht auf das Ergebnis des Intelligenztests ankommt, sondern darauf, wie wir Menschen begegnen, deren IQ nicht unserem eigenen entspricht.
Infos zum Buch
Titel: Flowers for Algernon
Autor: Daniel Keyes
Verlag: Mariner Books
Erstveröffentlichung: 1959 als Kurzgeschichte, 1966 als Roman
ISBN: 978-0156030083
Seiten: 320
Deutscher Titel: Blumen für Algernon (ISBN: 978-3608960297, Verlag: Klett-Cotta)
hach, dieses buch! ❤ ich habe es geliebt und den film (den neuen) fand ich auch ganz ok. ich hab mich erwischt, wie ich hemmungslos geweint hab, als charlie gemerkt hat, dass seine intelligenz wieder abnimmt, aber war auch teilweise froh, denn so hat er die grausamkeit der anderen ihm gegenüber nicht begriffen (gerade die am anfang!).
aber auch die idee des buches hat mich von der ersten seite an gepackt, ich konnte es damals gar nicht mehr weglegen. ❤
LikeGefällt 1 Person
Ja, es war nicht ganz einfach mitanzusehen, wie er seine Intelligenz wieder verloren hat. Auch seine Forschung zum Algernon-Gordon-Effekt fühlte sich irgendwie ein wenig so an, als würde er sein eigenes Grab schaufeln.
Herzzerreißendes und wunderschönes Buch ❤
LikeLike