Patrick Melrose: Heroin, Hoffnung und High Society

Es gibt Bücher und es gibt Bücher.
Bücher, die einen nicht nur unterhalten, sondern die einen nicht mehr loslassen, die man ewig weiterlesen möchte, die einem wieder aufs Neue bewusst machen, welche Kraft Geschichten entwickeln und welche Emotionen sie im Leser hervorrufen können. Man sucht sie stetig aber findet sie selten. Doch ich hatte Glück, denn Edward St Aubyn hat mit der Patrick Melrose Reihe gleich fünf davon verfasst.

Aufmerksam geworden bin ich auf diese Buchreihe, weil ich auf Youtube über den Trailer zur demnächst anlaufenden Patrick Melrose Serie gestolpert war (er ist unten eingebunden, falls ihr euch ein Bild machen möchtet). Wieso mich der YouTube Algorithmus unbedingt darauf aufmerksam machen wollte, ist relativ klar: Benedict Cumberbatch – er spielt in der Miniserie nämlich die Hauptrolle. Der Trailer gefiel, mein Interesse war geweckt und wurde noch dadurch gesteigert, dass die Serie auf einer Buchreihe beruht. Die wollte ich natürlich augenblicklich lesen!
Was ich nach dem doch recht humoresken Trailer nicht erwartet hatte war, dass die Bücher der fünfteiligen Reihe mich dermaßen bewegen, mitreißen, erschüttern würden, wie sie es letztendlich taten.

Die Patrick Melrose Bücher sind keine Gute-Laune-Lektüre – so viel sei schon mal gesagt. Vor allem, weil all das, was in den Büchern geschildert wird, autobiografisch ist. Es sind sogenannte Misery Memoirs – Werke, in denen sich der Autor mit dem eigenen Kindheitstrauma auseinandersetzt. Patrick Melrose ist Edward St Aubyns Alter Ego.

Als Leser begleiten wir Patrick in jedem der Bücher an einem speziellen Punkt in seinem Leben. Im ersten Buch, Never Mind, ist er 5 Jahre alt. Die Geschichte spielt auf dem Anwesen der wohlhabenden Familie Melrose in Frankreich, an einem Sommertag, der Patricks Leben für immer verändern sollte: sein Vater misshandelt und vergewaltigt ihn. Die Kaltblütigkeit, Grausamkeit und Gleichgültigkeit dieses Mannes war überwältigend – selten ist mir ein Charakter untergekommen, den ich mehr verachtet habe als David Melrose. Mir wurde schlecht – nicht nur weil die geschilderten Ereignisse an sich schrecklich sind, sondern weil das Leben für alle Personen in diesem Buch so normal weitergeht. Für alle außer Patrick, der auf einer Treppe sitzt und darauf hofft, dass seine Mutter sich um ihn kümmert, ihn tröstet, verteidigt. Vergebens…
Der zweite Teil, Bad News, war für mich als Leser der schwerste und gleichzeitig stärkste Band der Reihe. Patrick ist Anfang Zwanzig und befindet sich gerade in New York, um die Asche seines verstorbenen Vaters in Empfang zu nehmen. Die Bad News, also die schlechte Nachricht, ist allerdings nicht das Ableben David Melroses. Nein, es ist Patrick selbst. Er ist mittlerweile drogensüchtig, versnobbt, überheblich. Das ganze Buch ist ein einziger Drogenexzess, eine Jagd nach dem nächsten Schuss. Gleichzeitig wird klar: Patrick ist ein tief zerrissener junger Mann geworden. Ein Mann, der aufhören möchte Drogen zu nehmen, aber den Rausch liebt und braucht. Ein Mann, der erquickende Dialoge mit den Stimmen in seinem Kopf führt, aber gleichzeitig nichts sehnlicher wünscht, als dass sie verstummen mögen.
Das dritte Buch, Some Hope, spielt am Tag einer noblen High Society Party in England, zu der sogar Mitglieder der königlichen Familie geladen sind. Patrick ist Ende 20 und clean. Doch noch immer ist er innerlich zerrissen, sucht noch immer nach Befreiung von den Geistern der Vergangenheit, ist noch immer in der spirale seines Selbsthasses gefangen. In dem High Society Umfeld, voll von Oberflächlichkeit und unterschwelligen Grausamkeiten, ist die Vergangenheit präsenter denn je. Kann Patrick seinem Vater jemals vergeben? Oder kann er zumindest akzeptieren, was passiert ist?
Mit Some Hope endete die Patrick Melrose Reihe 1994 vorerst. Das Buch war, zumindest in meinen Augen, ein durchaus würdiger Abschluss. Denn es beinhaltet genau das, was der Titel verspricht: Hoffnung. Doch Patricks Geschichte war offenbar noch nicht zu Ende erzählt…
12 Jahre später folgen Mother’s Milk und At Last – sie zeigen Patrick als Ehemann, Familienvater und als Mensch der versucht, sein Leben zu bewältigen und sich dabei immer wieder selbst zurückwirft, der seine Emotionen auf andere projiziert, der nicht gelernt hat, erwachsen zu sein.
Mother’s Milk zeichnet das Portrait von Patricks eigener Familie, hinter deren Fassade es bröckelt – nicht zuletzt weil Patrick Alkoholiker geworden ist. At Last spielt am Tag der Beerdigung von Patricks Mutter, die ihr Leben den Charity-Organisationen verschrieben und dabei ignoriert hat, dass ein Kind in ihrem eigenen Zuhause hätte gerettet werden müssen. Ist ihr Tod letztendlich Patricks Befreiung?

Die Bücher werden aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt – mal ist es Patrick selbst, mal sein Sohn, mal ein Gast auf einer Dinner Party, mal sein Vater. Die Einblicke, die St Aubyn den Lesern dadurch bietet sind einmalig. Faszinierend zu sehen, wie weit Eigen- und Fremdwahrnehmung auseinanderklaffen; erschütternd zu erleben, dass das, was für den einen banal ist, für den anderen das ganze Leben zerreißt; bewegend zu lesen, dass Dinge ungesagt bleiben, die doch so viele Gedanken einnehmen.
Die messerscharfe Beobachtungsgabe mit denen viele der Charaktere in diesem Buch ausgestattet sind, ist das hervorstechende Element. Durch sie wird der Text mal brutal ehrlich, mal grausam, plötzlich witzig und ironisch. St Aubyns Schreibstil passt sich den Charakteren an, ist aber dabei stets melodisch, rhythmisch, fließend – Sätze verfasst er mit der Präzision eines Chirurgen, aber dem Herz eines Komponisten.

Faszinierend ist auch, dass Patrick kein Charakter ist, den man besonders mag. Er ist zuweilen pretentiös, arrogant, unsympathisch – und doch wünscht man ihm so sehr, dass er sich von dem befreien kann, was ihn zerstört. Man feuert ihn gedanklich an, wenn er eine gute Entscheidung trifft (Good for you!), möchte ihn anschreien, wenn er eine zerstörerische fällt (What the hell are you doing, Patrick?) und empfindet in mehr als einer Situation überwältigendes Mitleid für diesen zerrissenen Menschen (I am so, so sorry.)

Diese Bücher sind sicherlich nichts für jeden Geschmack. Nicht nur weil sie eine ganze Menge toxische Beziehungen, Drogen, Exzesse oder Sex beinhalten und Suizid und sexuelle Gewalt thematisieren. Sondern auch weil sie sich eher auf die Charaktere, ihre Gefühle und ihre Entwicklung, anstatt auf abenteuerliche Plots konzentrieren. Die Buchreihe ist fern ab von Feel-Good-Lektüre. Tatsächlich empfindet man als Leser eine ganze Menge negativer Emotionen – Abscheu, Angst, Trauer, Ekel – doch gleichzeitig ist da dieser Funken Hoffnung und die Bewunderung für einen Charakter, um den man sich sorgt, obwohl man ihn gerade nicht mag und einen Autor, der es geschafft hat, seinen eigenen Schmerz in wunderschöne Worte zu verwandeln.

Ich bin sehr gespannt, ob die Mini-Serie, die im Mai erscheint, dieser Vorlage gerecht werden kann. Ich bin guter Hoffnung – Benedict Cumberbatch scheint zumindest schon einmal die ideale Besetzung zu sein.

There are 12 comments

  1. ninakol.

    Hi. Ja, hatte schon mal was von der Serie, bzw der Besetzung. Ich weiss nicht, ob ich mich trauen werde die Bücher zu lesen, mich macht so was immer ziemlich fertig. Aber Du hast mich auf alle Fälle so so neugierig. Danke für einen tollen Beitrag!
    Liebe Grüße
    Nina

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    1. Karo

      Hallo Nina, vielen Dank 🙂 Ich kann durchaus verstehen, dass einem sowas zu sehr zusetzt – ich hatte auch teilweise zu knabbern. Aber die Serie scheint zumindest ein bisschen weniger intensiv zu sein. Ich bin mal gespannt.
      Sonnige Grüße aus Berlin
      Karo

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  2. Sabrina

    Hallo Karo,

    den Trailer zu der Serie hatte ich natürlich dank dem YouTube Algorithmus auch schon gesehen, war bisher aber immer sehr verwirrt. Nachdem ich deinen Beitrag gelesen habe, habe ich endlich das Gefühl, zu verstehen, worum es geht. Danke dafür!
    Ansonsten geht es mir wie Nina, ich bin jetzt super neugierig, aber unsicher, ob mir die Bücher nicht zu heftig wären.

    Liebe Grüße
    Sabrina

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  3. Karo

    Huhu Sabrina, danke Dir 🙂 Mich haben die Bücher schon manchmal ziemlich mitgenommen, aber gleichzeitig konnte ich ihnen auch was positives abgewinnen – nicht zuletzt der Gedanke, hier etwas spezielles in den Händen zu halten. Wirst du dir die Serie mit Cumberbenny anschauen?

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  4. schauwerte

    Der erste Band hat mich schon fertig gemacht. Patricks Kindheit nachzulesen geht ganz schön an die Nieren. Der Drogentrip durch New York ebenfalls und das Landleben in Frankreich wird ja nicht besser. Was für eine selbstzerstörerische Reise das ist. Dieses merkwürdige Selbstverständnis dieser „Klasse“ und das ihr keiner was anhaben kann und das so ein sich selbst infizierendes System entsteht, hat mich wahnsinnig gemacht.
    Ich bin sehr gespannt auf die Verfilmung (auch wenn ich bis jetzt finde, das Cumberbatch zu alt für die Rolle ist, aber wenn er es gut macht, wovon auszugehen ist, wird alles gut).

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    1. Karo

      Gut gesagt, gut gesagt. 🙂
      Ich finde auch dass Cumberbatch ein wenig zu alt ist, zumindest für Bad News und Some Hope. Aber wie du schon sagst, kommt’s am Ende auf die Performance an.

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    1. Karo

      Gerne doch 🙂 Die Bücher haben mich wirklich beeindruckt – aber ich denke, sie sind nicht jedermanns Geschmack. Ich bin schon sehr gespannt auf die Serie, bin leider noch nicht dazu gekommen sie mir anzusehen. Aber bald wird das hoffentlich was 🙂

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  5. Sabine

    Da hast du mich wirklich neugierig gemacht – ich hab die Werbung für die Serie im Urlaub in UK gesehen. Von der Buchreihe hatte ich bisher noch nichts gehört, hört sich aber deiner Beschreibung nach genau nach etwas an, was mir gefallen könnte:-)
    Immer wieder schön, deinen Blog zu besuchen, es ist wirklich erstaunlich, wie du immer genau meinen Geschmack bzw. meine Interessen triffst!

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    1. Karo

      Danke Sabine 🙂 Ich freu mich immer auf Gleichgesinnte zu treffen. Und die Sache mit dem David Tennant Aufsteller war der absolute Beweis, dass wir ziemlich gleich ticken 😀
      Patrick Melrose ist wirklich großartig – ich glaube, dass dir die Bücher sehr gefallen könnten. Die Serie ist auch klasse! Cumberbenny überzeugt mal wieder auf ganzer Linie 🙂

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  6. Kate

    Hallöchen,
    du hast mich so extrem neugierig auf diese Buchreihe gemacht! Ich hab sie mir jetzt gleich mal vorgemerkt. Hab gesehen, dass es im Deutschen auch einen Sammelband gibt 🙂
    Liebste Grüße, Kate

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