Von Männern, die Pferde gebären: Norse Mythology von Neil Gaiman

Wisst ihr, manchmal überlege ich doch recht lange, bevor ich ein Buch kaufe. Brauche ich das wirklich? Ist das was für mich? Gibt es nicht etwas Besseres zu dem Thema? Manchmal jedoch geht alles ganz schnell: Der Goodreads Algorithmus schlägt mir etwas vor, ich schaue es mir kurz an und kaufe es. „Oh man, sieht das schön aus!“, „Thor: Ragnarok war ziemlich cool!“ und „Neil Gaiman!!!“ waren bei Norse Mythology die einzigen Gedanken, die mir in den paar Sekunden auf dem Weg zum virtuellen Kassenschalter durch den Kopf gingen. Aber konnte der Impulskauf auch überzeugen? Oder war es eher ein Buch, das man begeistert anfängt und dann nach 50 Seiten enttäuscht aufgibt? Schauen wir doch mal… Optisch ist es in jedem Fall schon einmal ein Hingucker.

IMG_20181012_072558_926.jpg

Ich wusste vorab nicht besonders viel über die nordische Mythologie. Zumindest nicht sehr viel mehr als das, was man eben so weiß, wenn man sich im Marvel Cinematic Universe ganz gut auskennt. Thor, Loki, Odin und Co. waren mir bekannt, ebenso wie die „neun Welten“, die die asgardischen Götter beschützen. Mit dem Weltenbaum Yggdrasil hatte ich mich auch schon einmal befasst, weil meine Mutter mir eine Kette mit einem Baum-Anhänger geschenkt hat, und ich mich über dessen Bedeutung kundig gemacht habe. Aber darüber hinaus war mein Wissen recht ausbaufähig. Und als ich Neil Gaimans Namen auf diesem wunderschönen Buch prangen sah, wusste ich: Es wird Zeit, mein Wissen auszubauen.

Freilich erfindet Neil Gaiman das Rad in diesem Buch nicht neu. Norse Mythology ist eine Nacherzählung einiger Geschichten aus der altisländischen Edda bzw. aus den Eddas – es gibt nämlich zwei: Die Snorra- und die Lieder-Edda, aus deren Fundus sich Gaiman bedient.
Er erzählt hier einzelne, kurze Geschichten, von denen jede für sich allein stehen kann. Dennoch gelingt es Gaiman, durch kleine Anmerkungen in einzelnen Geschichten, von der ersten Seite an einen Spannungsbogen zu zeichnen und den Leser zu fesseln. Ach, eine Geschichte les‘ ich noch. Und noch eine, und noch eine… und plötzlich ist das Ende – Ragnarok – ganz nah. Der Abschied fällt schwer, denn Gaiman ist ein guter Geschichtenerzähler, dem man gerne zuhört. Aber ob ich jetzt auch einwandfrei hätte sagen können, dass Gaiman der Autor des Buches ist, wenn ich es nicht gewusst hätte, würde ich mal in Frage stellen. Vielleicht lag es daran, dass ein kleiner Teil von mir erwartet hatte, dass die Götter hier ‚modernisiert‘ werden. Alle Bücher, die ich bisher von Neil Gaiman gelesen habe, spielen in einem halbwegs urbanen und immer in einem modernen Umfeld. Dieser Gaiman hier war mir einfach weniger vertraut – die Geschichten hätten eine Prise mehr von der individuellen Note vertragen können, die seine Bücher für gewöhnlich auszeichnet. Aber fairerweise muss man sagen: Das Buch hatte gar nicht den Anspruch, den Figuren neue Fähigkeiten zuzuschreiben, sie in einen anderen Kontext zu setzen oder sich neue Abenteuer für sie auszudenken. Gaimans Norse Mythology ist eine Nacherzählung alter Geschichten und will auch nichts anderes sein. Man stelle sich also am besten vor, dass der nette Onkel Gaiman in einem großen ledernen Ohrensessel sitzt, ein Kaminfeuer prasselt, und wir, seine Leser, sich im Kreis um ihn versammeln, während er uns mit leuchtenden Augen von Odin und seinen Abenteuern berichtet.

Wir fangen dabei ganz am Anfang an und lernen zuerst, wie die Welten entstanden und erfahren dann, wie Odin sein Auge verlor, wie Thor zu seinem Hammer kam und wie die Götter schließlich, in Ragnarok, ihr Ende finden.

Und wenn wir mal ganz ehrlich sind, sind diese Geschichten schon fantastisch und verrückt genug – auch ohne, dass man da noch viel hinzufügen müsste. Es gab einige Momente, in denen ich dachte: Ja, was geht denn hier ab? Dass Loki sich in eine Stute verwandelt, um den Hengst eines Gegners abzulenken und dann ein achtbeiniges Fohlen zur Welt bringt, sei hier nur mal als Beispiel angeführt. Die Geschichten sind überraschend witzig – ich erwischte mich beim Kichern. Wer sich zum Beispiel fragt, woher schlechte Dichter ihr „Talent“ nehmen, beschäftige sich doch mal mit „The Mead of Poetry“ (Der Met der Poesie). Aber abseits von Witz und Skurrilitäten sind diese Geschichten eher nichts für Kinder oder schwache Nerven. Sie sind nämlich ziemlich brutal – es spritzt einiges an Blut und Gedärm. Darauf sollte man sich vielleicht einstellen und den metaphorischen Regenschirm zum Schutz aufspannen.

Als jemand, dessen Wissen zu den nordischen Göttern bisher nur aus den Marvel Filmen stammt, fiel mir zu Beginn vor allem das auf, was anders ist – und das ist nicht wenig. Es macht unheimlich Spaß, die Unterschiede zu entdecken. Loki und Thor wachsen beispielsweise nicht als Brüder auf. Und anders als in Thor: Ragnarok ist Hela nicht die Schwester der beiden, sondern Lokis Tochter.
Und ihr merkt schon: Loki, Loki, Loki. Es dreht sich bei diesen Sagen und Mythen viel um den Gott des Schabernacks – und das nicht ohne Grund. Denn er ist, zumindest in meinen Augen, der eigentliche Star dieser Geschichten. Ein Trickster, ein zwiespältiger Charakter, der den Göttern ebenso hilft, wie er sie betrügt. Ohne ihn und seine Intrigen, seine Streiche, seine List würden die Göttergeschichten einiges an Spannung und Attraktivität einbüßen. Natürlich sind aber auch die anderen Götter nicht zu verachten – auch von Thor, dem Haudraufmann, der lieber seinen Hammer schwingt, bevor er viele Fragen stellt und Odin, der sein Auge für Wissen opferte, liest man gern.

Ihr seht also schon: Ich habe dieses Buch sehr genossen. Ich fühlte mich nicht nur durchweg gut unterhalten, sondern weiß nun auch einiges über die nordische Mythologie – Gaiman sei Dank. Wie das Buch aber im Vergleich zu anderen Nacherzählungen oder gar zur Edda abschneidet, kann ich nicht beurteilen. Alles was ich weiß ist, dass dieses Buch für mich die absolut richtige Wahl war, um mich mit der Materie vertraut zu machen. Für meinen Geschmack hätte es gerne etwas dicker sein dürfen. Ragnarok kam zu schnell – ich hätte so gerne noch mehr von diesen fantastischen Abenteuern gelesen.


Infos zum Buch:
Titel: Norse Mythology
Autor: Neil Gaiman
Verlag: Norton & Company
Erstveröffentlichung: 2017
ISBN: 978-0393609097
Seiten: 299
Deutscher Titel: Nordische Mythen und Sagen (aus dem Englischen von André Mumot, Eichborn Verlag, ISBN: 978-3847906360)

There are 13 comments

  1. Sabrina

    Liebe Karo,

    das Buch steht schon ewig auf meiner Wunschliste, aber bisher habe ich mich noch nicht so richtig herangetraut. Grade weil die Verhältnisse ganz anders als bei Marvel sind. Aber jetzt hast du mir richtig Lust darauf gemacht! Vor allem wegen Loki natürlich 😉

    Alles Liebe
    Sabrina

    Gefällt 1 Person

    1. Karo

      Ohhh, da bin mal gespannt, wie dir der Loki hier so gefällt – er ist schon ein ziemlich anders als in den Filmen. Aber beide haben definitiv was! ❤
      Ganz liebe Grüße

      Like

  2. ninakol.

    Hi! Ich habe das Buch im Frühjahr geschenkt bekommen und begeistert gelesen! Übrigens auch eine schöne Ausgabe. Ich habe schon so einige Mythen und Sagen, auch nordische gelesen, aber ich finde, N. G. hat die Umsetzung ganz hervorragend hinbekommen. Die Sprache ist altmodisch, poetisch und doch auch modern. Und das ist gar nicht so einfach, wenn man es mit so alten Geschichten, die erst später (als sie entstanden sind!) niedergeschrieben wurden. Für mich war es eine tolle Lektüre. Übrigens habe ich schon als Teenager die ersten Geschichten dieser Art gelesen und auch die uns viel bekannteren griechischen Sagen sind ja brutal. Aber wer Marvel oder Fantasy erwartet, sollte wirklich erst Mal reinschauen!
    Viel Spass beim Lesen und liebe Grüße
    Nina

    Gefällt 1 Person

    1. Karo

      Hi Nina! Ah, also kann Gaiman auch im Vergleich zu anderen Erzählungen der Sagen gut mithalten – das ist schön. Ich denke, ich werde mich auch den griechischen Sagen widmen. Bin irgendwie angefixt 🙂

      Gefällt 1 Person

  3. letusreadsomebooks

    Wenn du dich auch für griechische Mythen interessierst, kann ich dir direkt im Anschluss „Mythos“ von Stephen Fry empfehlen. 😉 Ähnlich wie bei Gaiman kommt zwar nichts neues hinzu, Fry schreibt aber weniger nüchtern, moderner und auch stellenweise sehr lustig. Habe beide Bücher wahnsinnig gerne gelesen! 🙂

    Gefällt 1 Person

    1. Karo

      Jaaa, da war ich neulich im Buchladen auch schon kurz davor, es zu kaufen. Naja, der nächste Besuch im Buchladen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen – jetzt hast du mir richtig Lust drauf gemacht 🙂

      Gefällt 1 Person

  4. Nadine

    Liebe Karo,
    mit deiner Rezension hast du mich wahnsinnig neugierig gemacht, da ich sehr gern über nordische Mythologie lese. Schwups, ein Buch mehr auf meiner WuLi gelandet.
    Liebste Grüße
    Nadine | #linetzwerk

    Gefällt 1 Person

  5. Friedelchen

    Das werde ich mir auf jeden Fall einmal merken, zumindest für meinen Mann, denn den interessiert die nordische Mythologie sehr und so wird ihm hier sicherlich einiges bekannt vorkommen. Und du hast recht, optisch ist das Buch ein echter Hingucker

    Gefällt 1 Person

  6. Wissenstagebuch

    Hallo Karo,

    um dieses Buch schleiche ich auch schon ewig herum! Als Teenager habe ich mal aus großem Interesse heraus die Snorri-Edda gelesen. Stellenweise sogar laut, das weiß ich noch, weil ich die Dichtung (oder die Übertragung ins Deutsche) so gelungen fand. Ich glaube, das würde mir bei der Nacherzählung fehlen, deshalb zögere ich noch, mir Gaimans Buch zuzulegen.

    Viele Grüße
    Jana

    Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..