Less: Mit Weniger zum Pulitzer Preis

Es ist so eine Sache mit den Literaturpreisen. Sobald eine solche Plakette auf einem Buch prangt, schnellen die Erwartungen des Lesers in die Höhe. Insbesondere wenn es sich um den Pulitzer Preis handelt. Tränen erwartet man zu vergießen ob der unglaublichen Einsicht des Autors in die menschliche Psyche, das Leben, die Welt, will „Oooooh“ und „Ahhh“ sagen und hinterher behaupten können: Dieses Buch, es hat mein Leben verändert – ihr alle solltet es lesen! Pulitzer Preis – hallo!

Mit einer ähnlichen Erwartungshaltung wanderte Less von Andrew Sean Greer – Gewinner des Pulitzer Preises 2018 – beim letzten Besuch im Buchladen in meinen Einkaufskorb. Aber ob das Buch dieser Erwartung auch gerecht werden konnte? Schauen wir doch einfach mal…

Less – oder Mister Weniger, wie der deutsche Titel lautet – erzählt die Geschichte des mittelmäßig erfolgreichen Autors Arthur Less, der auf die 50 zugeht und der sich auf eine Reise um die Welt begibt. Nicht aber aus Neugier oder zu Recherchezwecken zu seinem neuesten Roman, sondern um eine Ausrede zu haben, um nicht der Hochzeit seiner Langzeitaffäre, Freddy, beiwohnen zu müssen. Diese Reise führt ihn nach Italien, nach Mexiko, nach Italien, nach Deutschland, Marokko und nach Indien.
Das, so denkt man nun, könnte der Auftakt zu der Art Liebeskomödie sein, in deren Verfilmungen Jennifer Aniston für gewöhnlich gecastet wird. Aber Pulitzer Preis – da muss noch mehr passieren, nicht wahr?

Nun ja, es steckt tatsächlich noch etwas mehr in diesem Buch. Aber eben genau das, was man von so einer tragisch-komischen Liebesgeschichte erwarten würde: Rückblicke in Less‘ Vergangenheit, witzige Begegnungen mit Fremden, Sprachbarrieren, Liebesaffären, Missgeschicke und die vorhersehbare Erkenntnis, [SPOILER] dass Freddy wohl mehr als eine Affäre war. [SPOILERENDE] (Wer hätte das gedacht!)
Das größte Mysterium und gleichzeitig die größte Freude ist dabei der einfühlsame, witzige und liebenswerte Erzähler. Er kennt Arthur Less zweifellos, aber der Leser erfährt lange Zeit nicht woher. Doch es ist klar: Auch diese beiden sind sich irgendwann mal nähergekommen.
Less‘ Abenteuer ist also gut verpackt und durchaus unterhaltsam erzählt. Die Geschichte plätschert so dahin wie ein Bach im Walde, der hier und da sogar mit einer kleinen Stromschnelle aufwarten kann: Ab und zu entfuhr mir ein Kichern und ein oder zwei Passagen ließen mir plötzlich die Tränen in die Augen schießen (das passiert bei mir allerdings schnell – ich weine auch bei der Merci-Werbung.)
Aber insgesamt wartete ich auf den großen Knall. Darauf, dass sich dieser Bach in einem reißenden Fluss verwandelt, auf die Wendung im Plot oder auf eine Charakterentwicklung des Protagonisten, die dieses Buch zu etwas Besonderem machen würde. Beides blieb aus. Und vielleicht ist genau das ja die Besonderheit dieses Buches. Aber in meinen Augen wirkt es dadurch einfach insgesamt etwas flach.

Versteht mich nicht falsch. Arthur Less ist ein netter Zeitgenosse. Liebenswürdig, neurotisch, tollpatschig, intelligent – ja, 250 Seiten kann man locker mit ihm aushalten. Aber er ist eben nicht sonderlich interessant. Und wenn sich ein Charakter in einem Buch auf eine derartige Reise begibt, erwartet man doch zumindest irgendeine Art von Entwicklung, oder? Auf einer Skala von 1 bis 10 startet Arthur Less auf der 5 und bleibt dort bis zum Schluss. Genau wie bei einem Herzmonitor würde ich aber gerne ab und zu mal einen Ausschlag dieser Linie sehen…

Um also auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Kann der Roman meinen oben erwähnten Erwartungen gerecht werden? Nein, kann er nicht.
Aber um mal eine berechtigte Gegenfrage zuzulassen: Sind diese Erwartungen nicht vollkommen überzogen? Sicherlich sind sie das. Denn ohne die kleine, goldene Pulitzer Plakette hätte ich von Less, dem Klappentext und dem Cover nach zu urteilen, nämlich genau das erwartet, was ich bekommen habe: Eine nette Urlaubslektüre, die man so nebenbei weglesen kann. Mit der Plakette drängten sich mir allerdings einige Fragen auf: Hab‘ ich hier irgendwas nicht verstanden? Blieb mir der tiefere Sinn dieses Romans vielleicht verborgen? Warum soll weniger… Plot, Überraschung, Charakterentwicklung… in diesem Fall so viel mehr sein?

(Sagt ihr es mir.)


Infos zum Buch:

Titel: Less
Autor: Andrew Sean Greer
Verlag: ABACUS
Erstveröffentlichung: 2017
ISBN: 978-0349143590
Seiten: 261
Deutscher Titel: Mister Weniger (Aus dem Englischen von Tobias Schnettler, S.FISCHER Verlag, ISBN: 978-3103973280)

There are 4 comments

  1. ninakol.

    Hi! Also neugierig bin ich jetzt nicht auf den Roman geworden, vielleicht wenn die Bücherei ihn bekommt und ich dran vorbei gehe.
    Aber vielleicht wollte der Autor keine Entwicklung. Kein More, sondern Less?

    Liebe Grüße
    Nina

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    1. Karo

      Wahrscheinlich 😄 Im Grunde ist es ja durchaus realistisch. Das echte Leben spielt so eben nun mal. Aber mir war es halt für ein Buch einfach eine Spur ZU wenig. Liebe Grüße

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  2. faunundfarn

    Hey Karo,
    sehr schöne, konstruktiv-kritische Rezension. Der Schriftsteller Michel Butor stellte einmal fest, dass die Literatur in einer geistigen Krise steckt. Vielleicht ist „Less“ ja auch ein Ausdruck dieser Krise, in der wenig Neues gewagt wird. Der Protagonist scheint ja nicht unbedingt so stark überzeichnet, dass die fehlende Entwicklung komisch oder tragisch rüberkommt.
    Liebe Güße, Carla

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    1. Karo

      Interessanter Kommentar – danke dafür 🙂 Vielleicht wendet sich Less ja auch ganz bewusst gegen die „gewohnte“ Literatur, indem der Autor auf all das verzichtet, was man von einem modernen Roman erwarten würde.

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