Touch: Zwischen Faszination und Beklemmung

Habt ihr schon mal in einen Raum betreten, aber total vergessen, warum ihr gerade dorthin gegangen seid? Um eure Armbanduhr zu suchen vielleicht? Oder weil ihr überprüfen wolltet, ob ihr den Fernseher ausgeschaltet habt? Oder habt ihr die Entscheidung vielleicht gar nicht selbst getroffen?
Touch von Claire North erzählt die Geschichte eines Wesens namens „Kepler“, das Menschen mit einer Berührung einnehmen kann. Kepler bleibt mal ein paar Sekunden, mal ein paar Jahre – in jedem Fall wird sich der Mensch, dem der Körper gehört, nicht an den Besuch erinnern und weiß nicht, was er oder sie in diesen Sekunden, Minuten, Tagen oder Jahren gemacht hat. Kepler kann in dieser Zeit das Leben des Wirts verändern – mal zum Guten, und zum Schlechten. Manch einer wacht vielleicht mit einem prall gefüllten Bankkonto auf und ein anderer in einer Gefängniszelle…

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Es ist eine fesselnde Idee, auf der Claire North ihre Geschichte aufbaut. Gleichsam faszinierend und abschreckend – und zum Glück nur hypothetisch – ist der Gedanke an Wesen, die unseren Körper einnehmen können und die uns Dinge tun lassen, an die wir uns später nicht erinnern werden. Aufzuwachen und nicht zu wissen, was man in den letzten Stunden getan hat, das ist ein Gefühl, vor dem sich die meisten Menschen fürchten. Zu Recht, wie in diesem Buch deutlich wird.

The time has flown and you don’t quite know why. All we need are a few seconds. To give my wallet to a woman I do not know. To kiss a stranger, make a telephone call, spit in the face of the man I love, punch a police-man, push a traveller in front of a train. To give an order in the voice known for its authority. […] I can change your life in a few seconds. And when it’s done, all you will be able to say as you stand in front of a jury of your peers is…. you don’t know what came over you. So tell me, […]. Have you been losing time?

Kepler versucht normalerweise möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, geht sorgsam mit den bewohnten Körpern um und wählt für gewöhnlich Menschen als Hülle, die nicht viel Kontakt zu anderen haben, sodass der Gedächtnisverlust nicht auffällt. Doch nun wird Kepler, genau wie andere Wesen ihrer/seiner Art, von einem Auftragsmörder verfolgt und ist daher nicht nur selbst in Gefahr, sondern auch alle Menschen, die er/sie bewohnt. Kepler selbst ist so lange sicher, wie es gelingt, vor dem Tod des Wirts einen anderen Menschen zu berühren und in dessen Körper zu springen. Doch wie viele Menschen kann sie/er opfern, um selbst am Leben zu bleiben?

Neben diesem originellen Konzept, bei dem man stets zwischen Faszination und Beklemmung schwankt, ist es vor allem North‘ klarer, intelligenter und einfühlsamer Schreibstil, der Touch zu einer hervorragenden Lektüre macht. Der Ich-Erzähler und Protagonist wirkt hier auch ohne feste Gestalt sehr real, weil North es schafft, inneren Mono- und Dialog lebensnah darzustellen – was längst nicht jeder Autor von sich behaupten darf. Nichts kommt gestelzt oder konstruiert daher. Alles wirkt menschlich, lebendig, melodisch. Ich wollte einfach nicht aufhören zu lesen, weil North so gut darin ist, die Geschichte zu erzählen.
Interessant ist hierbei auch der Umgang mit Gender-Identitäten – beziehungsweise die Abwesenheit derselbigen. Bevor Kepler ein Geist war, war er/sie eine Frau. Jetzt ist Kepler ein Wesen, das weder Mann noch Frau ist. Das Geschlecht des Körpers der bewohnt wird, ist unerheblich, ebenso wie das der Menschen, mit denen Kepler in der momentanen Hülle Beziehungen eingeht. Liebe ist Liebe.

Nach The First Fifteen Lives of Harry August (Die vielen Leben des Harry August) war Touch das zweite Buch von Claire North – ein Pseudonym der britischen Schriftstellerin Catherine Webb – das bei mir im Bücherregal gelandet ist. Auch The First Fifteen Lives of Harry August habe ich seinerzeit regelrecht verschlungen und sehr genossen. Daher kam ich nun aber nicht umhin zu bemerken, dass es einige Elemente gibt, die ich schon aus dem Vorgängerwek kannte. Zunächst einmal wären da die Grundideen der Geschichten, die genauso genial wie simpel sind und weitreichende Konsequenzen für die Charaktere in den Büchern nach sich ziehen: In The First Fifteen Lives of Harry August  geht es um einen Mann, der immer wieder dasselbe Leben leben muss, aber die Erinnerungen aus seinen vorherigen Leben behält. In Touch geht es nun um ein Wesen, das andere Körper in Beschlag nehmen und mit einer Berührung wechseln kann und somit theoretisch ebenfalls unsterblich ist. In beiden Büchern gibt es außerdem Untergrund-Organisationen die für und gegen diese Wesen/ Menschen kämpfen. Und es gibt in beiden Büchern jemanden, der zur selben… ich nenne es mal… Spezies gehört, auf die schiefe Bahn gerät und ein ambivalentes Verhältnis zum Protagonisten hat. Und beide Geschichten greifen recht häufig auf Flashbacks zu früheren Leben/ Wirten zurück. Aber ihr wisst ja, was man sagt, ne? Never change a winning team.

Wobei ich jetzt auch nicht sagen will, dass ich mich in irgendeiner Form gelangweilt hätte, nur weil mir einige Elemente bekannt vorkamen. Denn Touch mangelt es wahrlich nicht an Tempo. Das ganze Buch ist eine Verfolgungsjagd, bei der sich erst nach und nach klärt, wer wen aus welchen Gründen jagt.

“Have you ever or are you now involved in espionage or sabotage, or in terrorist activities, or genocide? I think we can put a big yes down for all of the above.”

Dieses wilde Katz- und Mausspiel, in ständig wechselnden Körpern, führt uns im Laufe der Geschichte an die verschiedensten Orte – Istanbul, Berlin, Paris, New York, um nur mal ein paar zu nennen – und Flashbacks schicken uns auf eine Reise in die Vergangenheit. Historische Hintergründe und Schauplätze wirken dabei gut und detailliert recherchiert – zumindest für Berlin kann ich das einwandfrei bestätigen.

Interessanterweise verändert sich im Laufe dieser Reise das Verhältnis des Lesers zum Protagonisten. Anfangs sympathisiert man sehr stark mit Kepler, versucht er/sie doch nur, sich mit dieser merkwürdigen Art der Existenz zu arrangieren. Kepler tut, was er/sie eben tun muss und versucht dabei immerhin meistens das Leben der Wirte positiv zu wandeln. Doch da mit dem Fortschreiten der Geschichte die Konsequenzen von Keplers Existenz klarer in den Vordergrund treten, ihr/sein Verhalten im Angesicht der Gefahr skrupelloser und drastischer wird, beginnt man zu verurteilen, was Kepler den Menschen antut, in denen sie/er lebt. Auf der Flucht bringt Kepler viele Menschen in Gefahr, denkt nicht daran, was es für jemanden bedeutet, an einem unbekannten Ort aufzuwachen, ohne auch nur ahnen zu können, wie man dort hingekommen ist, nicht wissend, ob man in den letzten Stunden Sex hatte, Drogen genommen oder Verbrechen begangen hat. Das ist ein erschreckender Gedanke, der mehr als einmal ein extrem unangehmes Gefühl beim Leser auslöst. Aber andererseits bleibt eben die Frage: Welche anderen Optionen hat Kepler denn, um am Leben zu bleiben?

Es sind diese Gedanken, die für mich den Reiz dieses Buches ausmachen und die meine Aufmerksamkeit bis zum Schluss auf sich ziehen konnten. Denn die Geschichte selbst wirkt gegen Ende der 400-seitigen Verfolgungsjagd hin leider ein wenig gestaucht und das große Finale ist für meinen Geschmack nicht so beeindruckend und aufschlussreich, wie es der mühevoll ausgearbeitete Spannungsbogen vermuten lassen würde. Hier verhält es sich wohl wie bei dem alten Sprichwort: Der Weg ist das Ziel.

Es fällt mir schwer, Touch in ein bestimmtes Genre einzusortieren. Es ist irgendetwas zwischen Psycho-Thriller, Fantasy, Agenten-Krimi und Abenteuerroman. Sicher bin ich mir allerdings bei zwei Dingen: Erstens würde ich eine Verfilmung dieser Vorlage gerne auf der Kinoleinwand sehen, denn der ständige, teils unbemerkte und willkürliche Wechsel der Körper und die gleichzeitige Beibehaltung der Persönlichkeit birgt durchaus Potential für einen Film, bei dem die Darsteller ihr ganzen Können entfalten könnten. Und zweitens habe ich es, trotz des etwas gescheuchten Endes, genossen, dieses Buch zu lesen – obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, mich ab und zu ein mulmiges, beklemmendes Gefühl überkam. Emotionen sind schließlich genau das, was gute Geschichten auslösen sollen und Claire North weiß definitiv, wie man eine solche Geschichte erzählen muss.


Infos zum Buch:

Titel: Touch
Autor: Claire North
Verlag: Orbit
Erstveröffentlichung: 2015
ISBN: 978-0356504568
Seiten: 464
Deutscher Titel: Touch – Dein Leben gehört mir (Aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers, Bastei Lübbe, ISBN: 978-3785725764)

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