Sherlockianische Grüße, ihr Lieben. Die #bakerstreetblogs melden sich heute wieder zurück. Wir haben zwei unterschiedliche Themen im Gepäck. Drüben auf Ant1heldin fragt sich Sabine, was passiert, wenn Holmes und Watson die Geschlechter wechseln und nimmt weibliche Versionen der Figuren unter die Lupe. Ich beschäftige mich derweil mit dem beliebten Diskussionsthema „Was stimmt mit Sherlock nicht“. Auf geht’s!
Die „Denkmaschine Holmes“ – kalt, emotionslos, unnahbar. Darüber zu spekulieren, was die Ursache für das kühle Auftreten des berühmten Detektivs sein könnte, ist eine der liebsten Beschäftigungen der Sherlockianer. Schon über den Geisteszustand des Original-Holmes von Arthur Conan Doyle wurde viel diskutiert, aber als die BBC Serie Sherlock eine moderne und aufgetunte Version des Detektivs auf den Plan schickte, kam noch einmal frischer Wind in die Segel. Kann man in anderen Adaptionen oder im Original nur mutmaßen, warum Holmes so kühl ist, liefert diese Serie gleich eine Diagnose mit. Bereits in der ersten Folge wird Sherlock darin mehrfach als Psychopath bezeichnet, woraufhin er erwidert: „I’m not a psychopath. I’m a high functioning sociopath. Do your research!“
Zweifellos eine sehr knackige und zugkräftige Aussage, die derartigen Kultstatus erreicht hat, dass man sie nun auf Tassen, T-Shirts und Postern erwerben kann. Diskussionen darüber, ob Sherlock aber wirklich ein Soziopath ist oder ob er nicht eigentlich doch ein ganz anderes Problem hat, sind Thema von etlichen Foren-Threads, Youtube-Videos und Artikeln. Wie sieht es also aus mit der Recherche, die Sherlock in diesem Zitat einfordert? Haben die Macher der Show – Steven Moffat und Mark Gatiss – ihre Hausaufgaben gemacht? Zeigen Sie uns einen Soziopathen? Oder ist Sherlock – entgegen seiner Aussage – vielleicht doch ein Psychopath? Oder hat er vielleicht eigentlich ein ganz anderes Problem?
Was Psychopathen von Soziopathen unterscheidet
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst einmal fragen, was überhaupt der Unterschied zwischen Soziopathen und Psychopathen ist. Tatsächlich ist die Antwort darauf keine besonders einfache. Denn einige Psychologen, Psychoanalysten und Kriminologen sagen, dass es überhaupt keinen Unterschied gibt. Soziopathie und Psychopathie werden teilweise einfach synonym verwendet. Gemäß dem DSM-5, dem Diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen, sind Psychopathie und Soziopathie auch keine eigenständigen Phänomene, sondern fallen unter den Ausdruck „Dissoziale Persönlichkeitsstörung“. Die Merkmale einer Dissozialen Persönlichkeitsstörung umfassen Verantwortungslosigkeit; Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen; fehlendes Schuldbewusstsein und Einfühlungsvermögen; eine niedrige Schwelle für aggressives oder gewalttätiges Verhalten; eine geringe Frustrationstoleranz; Schwierigkeiten, aus Erfahrungen zu lernen und die mangelnde Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten. Neben der DSM-5 gibt es auch noch andere Diagnosewerkzeuge, um Psychopathen zu ermitteln. Zum Beispiel die Psychopathy Checklist des kanadischen Kriminalpsychologen Robert D. Hare – wir werden später noch auf sie zurückkommen.
Dennoch gibt es auch Forscher, die argumentieren, dass es sehr wohl einen Unterschied zwischen Psycho- und Soziopathie gibt. In der Studie „Variants of psychopathy in adult male offenders: A latent profile analysis.“ von Mokros et al, wird beispielsweise beschrieben, dass die Begriffe Psychopathie und Soziopathie in einem anderen Kontext verwendet werden: Psychopathie in einem psychologischen und Soziopathie in einem soziologischen. Was damit gemeint ist, ist folgendes: Bei Psychopathen gibt es eine Störung im Gehirn – häufig vererbt oder genetisch bedingt; die Störungen eines Soziopathen sind das Ergebnis von äußeren Einflüssen – z.B. Kindheitstraumata oder Erfahrungen in der Jugend.
Diese beiden Varianten der psychopathischen Störung bezeichnet man auch als Primäre Psychopathie – das, was man meint, wenn man „Psychopath“ sagt – und Sekundäre Psychopathie oder Pseudopsychopathie – das, was meist mit „Soziopath“ gemeint ist. Ein primärer Psychopath wurde so geboren, ein Soziopath, wurde zu einem gemacht. Dementsprechend gibt es auch einen Unterschied im Verhalten: Das Verhalten eines Soziopathen weicht weniger stark vom „normalen“ Verhalten ab, als das eines Psychopathen. Ein Psychopath ist aufgrund der Störung im Gehirn nicht in der Lage, Empathie zu empfinden. Ein Soziopath könnte das aber theoretisch und tut es vereinzelt auch.
Was ist Sherlock Holmes also? Psychopath, Soziopath oder keins von beiden?
Warum uns das überhaupt interessiert
Nun, man könnte sich zunächst einmal fragen, wie sinnvoll es überhaupt ist, eine solche Frage zu stellen. Denn so lebendig der Detektiv auch zu sein scheint und so viele Herzen Cumberbatchs Interpretation des Charakters auch erobert hat, bleibt er doch immer eine fiktive Figur.
Warum viele Menschen aber trotzdem inspiriert werden, ihm und anderen fiktiven Figuren ein vollständiges Seelenleben und eine Vergangenheit zuzuweisen, hängt unter anderem damit zusammen, wie unser Gehirn Geschichten verarbeitet: Erfahrungen, die Figuren in Geschichten machen, verarbeitet und speichert unser Gehirn ähnlich wie unsere eigenen. Charakterbasierte Geschichten erhöhen außerdem den Oxytocinspiegel. Oxytocin ist auch als Kuschelhormon bekannt und von elementarer Bedeutung bei zwischenmenschlichen Bindungen. Dadurch fühlen wir, als echter Mensch, uns mit den Charakteren der Geschichte, die wir gerade verfolgen, verbunden und schreiben ihnen deshalb eine vollständige Persönlichkeit – manchmal mitsamt Persönlichkeitsstörungen – zu. Dass dies aber nicht ohne weiteres funktioniert, merkt man schnell, wenn man versucht, das Verhalten fiktiver Figuren an „menschlichen Standards“ zu messen. Eine Figur mag echt wirken, aber sie ist es am Ende eben nicht. Eine Figurenzeichnung ist nicht immer konsistent und auch nicht immer komplett durchdacht. Manche Figuren sind einfach nur da, um zu unterhalten, zu belustigen, und hören danach einfach auf – sie sind nicht dreidimensional. Viele Figuren – und das trifft auch auf unseren Sherlock Holmes zu – wurden nur erschaffen, um einen speziellen Zweck zu erfüllen. Denn Fiktion beschäftigt sich sehr häufig mit der Was-Wäre-Wenn-Frage. Was wäre, wenn plötzlich überall auf der Welt die Stromversorgung zusammenbricht? Was wäre, wenn wir durch die Zeit reisen könnten? Was wäre… wenn ein Ermittler die Verbrechensaufklärung wie eine Wissenschaft behandelt? Auftritt: Sherlock Holmes – die Denkmaschine.
Holmes ist so „anders“, kalt und berechnend, weil Doyle einen Detektiv erschaffen wollte, der die Verbrechensaufklärung rein logisch angeht. Dazu war es notwendig, dass der Detektiv eben all das missachtet oder ausblendet, was wir als „menschlich“ betrachten: Emotionen, Sexualtriebe usw. Sherlock Holmes sollte Verbrechen analytisch lösen und Abenteuer erleben – das war seine Funktion und alles andere ist quasi Beiwerk und Ausschmückung.
Weil wir aber, wie eben erwähnt, oft den Wunsch haben, dass fiktive Figuren ein komplettes Leben haben und nicht einfach aufhören zu existieren, wenn die Geschichte endet, versucht man, hinter die Fassade von Holmes zu blicken. Was sorgt dafür, dass er so ist, wie er ist? Und was schlummert hinter der Maske?
Sherlock Holmes im Original – Ein Psychopath?
Allein, was den Original-Holmes betrifft, gibt es bereits diverse Meinungen darüber, was die Ursachen für sein Verhalten sind. Die „Diagnosen“ reichen von Asperger-Syndrom, über Bipolare Persönlichkeitsstörung, bis hin zur Psychopathie. Letztere ist eine der bekanntesten Theorien und weil wir uns später mit dem High Functioning Sociopath aus BBC Sherlock befassen, schauen wir uns dieses Thema zunächst mal beim originalen Holmes an.

Illustration: Sidney Paget, Wikimedia Commons
Googelt man nach einer Antwort zu diesem Thema, stößt man sehr bald auf Artikel des Neurowissenschaftlers James Fallon. Er plädiert eindeutig dafür, dass der Sherlock Holmes aus den Originalen ein charismatischer primärer Psychopath ist. Er stützt seine These unter anderem darauf, dass der Detektiv keine Emotionen und Empathie zeigt, sich nicht für andere interessiert und sich nicht um die Gefühle anderer schert, es dabei aber trotzdem schafft, dass andere ihn bewundern. Die Sache ist allerdings, dass man in Frage stellen könnte, wie genau James Fallon die Geschichten eigentlich gelesen hat.
Denn zunächst einmal fehlen beim originalen Holmes Informationen darüber, wie er sich verhält, wenn er gerade keinen Fall löst. Klar, wir wissen, dass er ohne zu lösende Probleme nicht gut kann und sich dann ab und zu Kokain spritzt. Aber darüber hinaus ist die Informationslage dünn. Gleiches gilt für Wissen darüber, wie er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Das meiste, was wir darüber meinen zu wissen, stammt eigentlich aus Theorien von Sherlockianern. Selbst wenn Holmes also eine psychische Störung hat, wäre es unmöglich zu sagen, ob sie wie bei einem Psychopathen von Natur aus da ist, oder wie bei einem Soziopathen auf äußere Faktoren zurückzuführen ist.
Holmes‘ kalte Art scheint außerdem in den Originalen eher etwas zu sein, dass er erlernt hat, um ein besserer Detektiv zu sein. Zum Beispiel sagt Holmes in The Sign of Four über Watsons zukünftige Ehefrau Mary Morstan: “I think she is one of the most charming young ladies I ever met.” Aber darauf folgt der Satz: “But love is an emotional thing, and whatever is emotional is opposed to that true cold reason which I place above all things.”
Holmes erkennt also, dass Mary charmant ist, aber er verwirft den Gedanken dann. Er ist nicht unberührbar von Emotionen oder unempfänglich für Charme oder andere Reize, aber sobald er sie erkennt, schiebt er Gefühle zur Seite.
Ja, Holmes wirkt kalt, unnahbar, agiert teils rücksichtslos, er scheint manchmal Probleme zu haben, Emotionen vorauszusehen und seine Methoden sind nicht immer solche, die für einen „normalen“ Menschen akzeptabel sind – zum Beispiel Hausmädchen Heiratsanträge zu machen, um an Informationen zu gelangen. Aber es mangelt ihm an, für einen Psychopathen entscheidenden, Eigenschaften wie der Unfähigkeit, Empathie und Reue zu empfinden oder Fehler und Schuld einzugestehen.
Seine Empathievermögen äußert sich schon allein dadurch, dass er Kriminelle laufen lässt, wenn sie seiner Meinung nach im recht sind oder wenn er ihre Motive nachvollziehen kann. Das ist natürlich moralisch zwiespältig, aber ein Zeichen dafür, dass Sherlock Holmes Verständnis für menschliche Emotionen hat. Er zeigt außerdem sehr wohl Reue und entschuldigt sich, wenn er einen Fehler gemacht hat. So zum Beispiel der Geschichte The Devil’s Foot, nachdem er sich selbst und Watson durch ein Experiment in Gefahr gebracht hat: „I owe you both my thanks and an apology. It was an unjustifiable experiment even for one’s self, and doubly so for a friend. I am really very sorry“
Und obwohl Sherlock Holmes tatsächlich die meiste Zeit über arrogant und überheblich wirkt, ist er gleichzeitig durchaus in der Lage, Fehler zuzugeben. So heißt es in The Disappearance of Lady Francis Carfax: “Should you care to add the case to your annals, my dear Watson, it can only be as an example of that temporary eclipse to which even the best-balanced mind may be exposed.”
Dass hinter der kalten Fassade doch etwas Wärme liegt, zeigt außerdem die Geschichte The Three Gerridebs. Nachdem Watson in der Geschichte angeschossen wird, ist Holmes ausgesprochen bestürzt, was Watson zu folgenden Worten veranlasst: „It was worth a wound — it was worth many wounds — to know the depth of loyalty and love which lay behind that cold mask. The clear, hard eyes were dimmed for a moment, and the firm lips were shaking. For the one and only time I caught a glimpse of a great heart as well as of a great brain.
Da ist er, der Beweis, dass Sherlock Holmes ein Herz hat – auch wenn er es meistens gut versteckt. Wenn die Fassade eines Psychopathen bröckelt, würde man sehen, dass dahinter nur Kälte liegt. Bei Holmes ist genau das Gegenteil der Fall. Er ist kein Psychopath – nicht einmal ein sekundärer.
BBC Sherlock – Ein Soziopath?
Etwas fragwürdiger ist dies jedoch in der BBC Serie Sherlock. Die Figur des Detektivs ist dort so angelegt, dass sie viele Eigenschaften des Original-Holmes drastischer darstellt. Sherlock wirkt – zumindest anfangs – härter, fieser, exzentrischer, antisozialer und insgesamt „unnormaler“ als der Original-Holmes. Die Ursache für sein ungewöhnliches Verhalten erklärt Sherlock selbst: Er ist ein High Functioning Sociopath. In Staffel 4 sehen wir dann auch endlich einen möglichen Auslöser für Sherlocks angenommene Soziopathie: Seine Schwester tötet seinen besten Freund.
Was sich viele Zuschauer beim ersten Schauen von Sherlock zunächst aber einmal gefragt haben, war vielleicht: Was soll das „high functioning“ vor dem „Sociopath“
Hochfunktional im Zusammenhang von Störungen bedeutet normalerweise so viel wie, dass ein Patient in der Lage ist, mit oder trotz der Einschränkung zu „funktionieren“. Das ist im Zusammenhang mit Psycho- und Soziopathie eher ungebräuchlich. Denn – man mag es ja kaum glauben – Menschen mit psychopathischen oder soziopathischen Störungen sind oft sogar sehr erfolgreich. Tatsächlich ist der Begriff viel gebräuchlicher im Zusammenhang mit Autismus und meint dabei, dass der Betroffene hochintelligent ist und einen Weg gefunden hat, in der Gesellschaft erfolgreich zu sein. Genau wie Sherlock in der Serie.
„Hochfunktional“ mag er also sein, aber was ist mit dem „Soziopath“? Zeigt Sherlock wirklich die Eigenschaften eines Soziopathen?
Wie bereits erwähnt, sind solche Einschätzungen für fiktive Figuren ein wenig problematisch. Aber da Moffat und Gatiss das angebliche Soziopathendasein so in den Fokus stellen, können wir auch durchaus mal schauen, ob sie uns auch wirklich einen zeigen. Also, lasst uns „The Game“ spielen und so tun, als wäre Sherlock ein echter Mensch.
Sherlock und die Psychopathy Checklist
Als „Diagnosetool“ nutzen wir die Psychopathy Checklist von Robert D. Hare. Diese Checklist umfasst 20 Punkte, die jeweils mit einem Wert von 0 (trifft nicht zu) bis 2 (trifft voll und ganz zu) bewertet werden. Als (primärer) Psychopath gilt, wer mehr als 29 Punkte hat. Soziopathen erreichen meist Punkte zwischen 22 und 29. Schauen wir doch mal, welche Kriterien Sherlock erfüllt. The game is on!
Man muss ganz klar sagen, dass einige Punkte von der Psychopathen Checkliste tatsächlich voll und ganz auf Sherlock zutreffen. Das sind: Oberflächlicher Charme, Stimulationsbedürfnis, Manipulatives Verhalten, Polytrope Kriminalität und Mangel an Empathie.
Obwohl Sherlock die meiste Zeit über ziemlich unausstehlich ist, kann er sehr charmant sein, wenn er es denn will. Sein oberflächlicher Charme ist eines der wichtigsten Elemente der Interpretation. Er setzt den Hundeblick auf und verteilt immer dann Komplimente, wenn er andere Personen dazu bringen möchte, etwas für ihn zu tun. Sein umgekehrtes Lächeln, das sofort verschwindet, wenn er das bekommen hat, was er möchte, ist einer seiner Signature Moves.
Das hohe Stimulationsbefürfnis sehen wir immer und immer wieder, insbesondere in der Folge The Hounds of Baskerville, in der Sherlock zu Anfang in einem sehr manischen Zustand und einer Harpune in der Hand gezeigt wird. Sherlock braucht ständig Stimulation. In seinem Fall: Probleme, die es zu lösen gilt – ansonsten dreht er durch.
Auch das manipulative Verhalten wird uns mehrere Male gezeigt. Seinen besten Freund, John Watson führt er immer und immer wieder hinters Licht. InThe Hounds of Baskerville sogar so sehr, dass er ihn zunächst mit falschen Informationen füttert, um dann die Wirkungsweise einer Droge an ihm zu testen.
Sherlock begeht aber nicht nur moralische Verbrechen, sondern auch tatsächlichen Gesetzesbruch – und wir sprechen hier nicht nur von Bagatelldelikten. Im Gegenteil: In His Last Vow erschießt Sherlock den Erpresser Magnussen und wird dadurch zum Mörder.
Hinzu kommen diverse andere kleinere Verbrechen, mit denen Sherlock aber meistens einfach so davonkommt. Dazu zählen: Einbruch in The Blind Banker, das Zurückhalten von Beweisen gegenüber Scotland Yard in A Study in Pink und Drogenbesitz und -konsum unter anderem The Abominable Bride. Also trifft auch der Punkt Polytrope Kriminalität voll und ganz zu.
Der Mangel an Empathie ist allerdings die hervorstechendste „psychopathische“ Eigenschaft bei Sherlock – sie ist es, die uns am wenigsten „normal“ vorkommt. In A Study in Pink kann Sherlock beispielsweise nicht verstehen, wieso Jennifer Wilson noch immer traurig über ihre Fehlgeburt gewesen sein könnte.
Das eindringlichste Beispiel ist aber vermutlich, dass er seinem besten Freund nichts davon erzählt, dass er seinen Tod nur vorgetäuscht hat. Er lässt ihn stattdessen zwei Jahre trauern und steht sogar versteckt einige Meter versteckt daneben, als sein Freund an seinem Grab weint. Dafür braucht es schon ein sehr gestörtes Empathie-Vermögen.
Bei anderen Punkten auf der Psychopathy-Checklist bewegt sich Sherlock nur im Mittelfeld: Übersteigertes Selbstwertgefühl, Mangel an Gewissenbissen, Unzureichender Verhaltenskontrolle und Unfähigkeit zu tiefen Gefühlen können wir ihm nur teilweise zuschreiben.
Das übersteigerte Selbstwertgefühl würde man Sherlock auf den ersten Blick sicherlich zusprechen. Dafür sprechen Aussagen wie: „Oh look at you. You’re all so vacant. Is it nice not being me? It must be so relaxing!“ Das ist jedoch immer etwas, das nur auf seinen Intellekt und seine Arbeit bezogen ist. Man könnte daher auch fragen: Ist das wirklich ein übersteigertes Selbstwertgefühl oder ist es vielleicht sogar eine korrekte Einschätzung?
Denn Sherlock ist sich seiner Schwächen, insbesondere auf der persönlichen Ebene, auch bewusst. So beschreibt er sich in seiner Trauzeugenrede als „the most unpleasant, rude, ignorant and all round obnoxious arse-hole that anyone could possibly have the misfortune to meet…“
Den Mangel an Gewissensbissen und Schuldbewusstsein sehen wir manchmal, aber manchmal auch nicht. Sicherlich, in The Great Game zeigt er beispielsweise keinerlei Schuldempfinden, als eine alte Dame in die Luft gesprengt wird, weil er den Fall nicht rechtzeitig gelöst hat.
Aber als er es nicht geschafft hat, den Schwur zu halten, den er bei der Watsons Hochzeit abgegeben hat – die Watsons zu beschützen – und Mary stirbt, stürzt er in ein tiefes Loch.
Ebenso schwer fällt die Einteilung beim Punkt der Unfähigkeit zu tiefen Gefühlen. Sherlocks Reaktionen auf Emotionen wirken ambivalent. So sagt er in A Skandal in Belgravia: „Sentiment is a chemical defect found in the losing side. This is your heart and you should never let it rule your head.“ Aber am Ende zeigt er ja doch Gefühle für Irene Adler – rettet ihr das Leben. Seine, sich vertiefende, Beziehung zu Watson zeigt außerdem eine weitere deutliche Entwicklung in Richtung „echter Mensch mit echten Gefühlen“.
Zum Punkt Unzureichende Verhaltenskontrolle kann man sagen, dass Sherlock sich zwar meistens ziemlich gut im Griff hat, aber wir auch Ausbrüche verbaler und körperlicher Aggression zu sehen bekommen. In The Hounds of Baskerville schmeißt er zum Beispiel Laborequipment an die Wand,
weil er nicht findet, was er sucht.
Er reagiert außerdem gereizt, wenn äußere Einflüsse ihn darin hindern, sich zu konzentrieren. So in A Study in Pink: „Shut up everybody, shut up! Don’t move, don’t speak, don’t breathe, I’m trying to think! Anderson, face the other way, you’re putting me off!“
Auf Robert Hares Checklist, finden sich aber auch Punkte, die auf Sherlock überhaupt nicht zutreffen. So ist Sherlock zum Beispiel kein pathologischer Lügner. Sicherlich lügt er, wenn es sein muss, zum Beispiel, um an Informationen zu gelangen. Aber es ist nicht krank- und zwanghaft. Psychopathen und Soziopathen lügen quasi ständig und grundlos.
Auch einen parasitären Lebensstil kann man Sherlock nicht vorwerfen. Er lebt nicht auf Kosten anderer und bereichert sich auch nicht dadurch, dass andere für ihn zahlen.
Verantwortungslosigkeit und Mangelnde Bereitschaft Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, kann man dem Detektiv ebenfalls nicht vorwerfen. Es gibt keine Belege dafür, dass er seine Pflichten missachtet, Rechnungen nicht bezahlt oder sich nicht an getroffene Vereinbarungen hält. Auch der Punkt der Impulsivität trifft nicht auf Sherlock zu. Er handelt zwar schnell, aber selten impulsiv. Er berechnet die Konsequenzen seines Handels – aber eben schneller als ein normaler Mensch. Und von den Punkten Promiskuität und dem Vorhandensein von zahlreichen, kurzen eheähnlichen Beziehungen können wir bei Sherlock auf den ersten Blick freisprechen. Sexuelle gehört nun wahrlich nicht zu seinen Eigenschaften.
Es gibt zudem vier Kriterien, zu denen wir keine Aussage machen können, weil wir nicht genug in der Serie dazu sehen: Jugendkriminalität, Bewährungsverstöße, frühe Verhaltensauffälligkeiten und das Fehlen von realistischen Langzeitzielen.
Das ergibt insgesamt einen Punktestand von 14. Das zeigt Sherlock zwar außerhalb des normalen Rahmens von 0-6 Punkten, aber auch nicht in der Nähe der 22-29 Punkte, die ein Soziopath erreichen würde – und ziemlich weit weg von den 30 Punkten, die ein Psychopath erzielen würde.
Asperger-Syndrom?
Als Erklärung für Sherlocks Verhalten wird auch oft das Asperger-Syndrom ins Spiel gebracht – so zum Beispiel auf Fan-Sites, in Foren oder sogar durch Watson in Die Hunde von Baskerville. Asperger ist eine Variante des Autismus, die sich auf der einen Seite durch Schwächen in der sozialen Interaktion und Kommunikation und andererseits durch stereotypes Verhalten mit eingeschränkten Interessen zeigt. Tatsächlich treffen auf den Sherlock einige Merkmale des Asperger-Syndroms zu – wie beispielsweise sozial und emotional unangemessenes Verhalten, eingegrenzte Interessen, mangelndes Verständnis für soziale Signale – aber genauso viele andere eben auch nicht. So zum Beispiel: Repetitive Routinen, Fehlinterpretationen von wörtlichen Bedeutungen, begrenzte Gestik und begrenzter Blickkontakt sowie motorische Unbeholfenheit. Sollte die Figur in der Serie also so angedacht sein, dass sie Asperger zeigt, ist es in jedem Fall keine besonders gelungene Umsetzung.
Das ist doch nicht normal!
Gut, nun habt ihr aber diesen Artikel hier wahrscheinlich gelesen, weil ihr herausfinden wolltet, warum Sherlock, so ist wie er ist.
Der Holmes aus den Originalen von Arthur Conan Doyle ist wie er ist, weil er Probleme ohne Einfluss von Emotionen, rein wissenschaftlich lösen sollte. Er ist kein Psycho- oder Soziopath, sondern allerhöchstens unkonventionell, unnahbar, exzentrisch und seine Methoden moralisch fragwürdig. Sherlock, als moderne Adaption verstärkt diese Eigenschaften und macht den Detektiv dadurch ansprechender für ein modernes Publikum.
Figuren, die „anders“ sind, finden wir unterhaltsam, interessant und manchmal auch witzig, weil sie sich nicht so verhalten, wie wir oder wie es die Gesellschaft von ihnen erwarten. Man denke an Spock aus Star Trek oder an Sheldon Cooper aus The Big Bang Theory. Eine Figur sagen zu lassen: „I’m not a hero, I’m a high functioning sociopath“, ist zweifellos ein einwandfreier Weg, um zu sagen: Hey, schaut her, unser Protagonist ist ganz anders als normale Leute!
Im Falle von Sherlock hat die Deklarierung als Soziopath – auch wenn er, wie wir eben besprochen haben, keiner ist – aber noch eine andere Funktion. Anders als in Doyles Original, macht Sherlock hier nämlich eine Entwicklung durch. Der Einfluss, den John Watson auf Sherlock hat, ist eines der zentralen Motive der Show. Der Detektiv wird durch Watson menschlicher, je weiter die Serie voranschreitet. Um diese Entwicklung wirkungsvoll zu zeigen, war es nötig, einen extremen Kontrast herzustellen – und wie ginge das besser, als zu sagen: Unser Held ist ein Soziopath? Je länger die Serie läuft, desto emotionaler, weicher und verletzlicher wird Sherlock. Er wird von einem Mann, der nicht in der Lage ist, Emotionen zu zeigen, zuzulassen oder angemessen auf sie zu reagieren, zu jemandem, der bewegende Hochzeitsreden hält und seinen Freund dann in Staffel 4 auch endlich mal tröstend in den Arm nehmen kann.
Der Hauptgrund dafür, dass Sherlock den Protagonisten als Soziopath bezeichnet und dass die Psychopath-Soziopath-Diskussion überhaupt in der Serie so präsent ist, ist aber vermutlich, dass es sich einfach gut verkauft. Psycho- und Soziopathen faszinieren uns. Und auch wenn wir ihnen im realen Leben nicht begegnen wollen, finden wir es doch recht spannend, uns mit ihnen zu befassen, wenn wir in sicherem Abstand zu ihnen auf der Couch sitzen. Psychopathen sind schon seit einigen Jahren „in“ – schon seit Dr. Hannibal Lecter aus Das Schweigen der Lämmer uns gleichzeitig anekelte und faszinierte. Wir sehen daher in den letzten Jahren sehr viele Psycho- und Soziopathen in der Film- und Fernsehlandschaft. Man denke da beispielsweise an Lucifer oder Dexter. Klar, der alte Spruch „Sex Sells“ gilt noch immer. Aber wenn man eine erfolgreiche Serie produzieren will, gilt mittlerweile auch: Sociopathy Sells.
So, nun genug über Psychopathen und schnell rüber zu Sabine, zu ihrem Artikel über weibliche Versionen von Holmes und Watson! Ich bin schon sehr gespannt! HIER geht’s lang.
Quellen
Sollid, Ragnhild (2016): A „high-functioning sociopath“? Sherlock Holmes (psycho)analysed
Mokros, A., Hare, R. D., Neumann, C. S., Santtila, Habermeyer, E., & Nitschke, J. (2015): „Variants of psychopathy in adult male offenders: A latent profile analysis.“
Web:
Maria Konnikova | criminal element: Stop Calling Sherlock a Sociopath! Thanks, a Psychologist.
Business Insider: We asked a neuroscientist if Sherlock Holmes is actually a sociopath and his answer surprised us
Dr. Todd Grande (Youtube): What is the Difference Between Primary and Secondary Psychopathy?
Wikipedia: Asperger-Syndrom, Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Ein interessanter Beitrag! Das mit der Erklärung, warum wir oft mit Serien und Buchcharaktere wie reale Personen umgehen, wusste ich gar nicht. Das finde ich sehr faszinierend, weil ich mich da auch mal öfter ertappt haben mich mit meiner besten Freundin über Buchcharaktere wie echte Menschen zu unterhalten. Als wir in der Schule im Päda LK Rauchfleischs physchologischen Ansatz durchgenommen haben, haben wir Klaus aus The Original auch auf psychische Störungen „untersucht“ 😀 So genug zu dieser kleinen Anekdote, auf jeden Fall schön Sherlock Holmes unter die Lupe genommen, habe jetzt auch wieder Lust bekommen einen Rewatch der Serie zu starten.
Liebe Grüße
Nadine
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Hey Nadine, danke Dir! 😊 Ja, es ist nicht immer so ganz einfach, fiktive Figuren nicht wie echte Menschen zu betrachten. Ich hatte auch schon den einen oder anderen Crush auf Figuren aus Büchern 😁
Haha, euer Pädogogik LK klingt ja super! Das war garantiert eine sehr interessante Beschäftigung. Und welche Störungen hat Klaus so? 😀
P. S. Ich hab hier vor einer Weile mal ein paar Zeilen dazu geschrieben, was so im Gehirn passiert, wenn wir Geschichten hören: https://fiktionfetzt.blog/2018/02/24/weshalb-menschen-geschichten-lieben/
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Oh ja von Crush zu Buch Charakteren kann ich ein Lied singen, dass übertrifft deutlich die Menschen im realen Leben 😀
Warum sind die aber auch immer so toll? 😀
ich bin mir nicht mehr ganz sicher. Ich glaube, wir haben ihm eine narzistische Persönlichkeitsstörung diagnosiert, weil er zur Gewaltätigkeit neigt, dadurch aber auch zum großen Teil seine Verletztlichkeit versteckt, eigentlich ein geschwächtes Selbstbewusstsein hat, dass er zu verstecken versucht. Dann haben wir halt seine Kindheit und sein schlechtes Verhältnis zu seinem Vater analysiert 😀
Alles halt aus Spaß 😀 War eine nette Klausur Vorbereitung.
Danke für den Link, da werde ich mal vorbei schauen. Sehr interessantes Thema 🙂
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Oh was für ein Beitrag Karo!
Ich habe mir heute mal im Zuge des #litnetzwerk die Zeit genommen und intensiv diesen Beitrag zu lesen. Finde ich sehr interessant, vor allem auch, dass wir diesen fiktiven Charakteren einen menschlichen Standart setzen. Mit allem drum und dran. Funktioniert sicher nicht bei allen, aber gerade so herausragende Figuren wie Holmes allemal. Zumal er immer und immer wieder in verschiedenen Zeiten wieder aufgegriffen wird und seine Beliebtheit scheinbar nie endet.
Ich habe ihn allerdings nie als Psychopath gesehen – Asperger, ja, hätte ich mir vorstellen können, aber am Ende war er für mich hauptsächlich genial und zynisch, exzentrisch und ja, moralisch manchmal fragwürdig.
Vielen Dank für diesen ausführlichen Beitrag!
Ein schönes Wochenende
Anett
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