
Ich frage mich oft, wie Alan Turing wohl reagieren würde, wenn man ihn in eine Zeitmaschine setzen und in die heutige Zeit bringen würde. Wie befremdlich wäre es wohl für ihn, wenn er sein Gesicht auf der 50 Pfund Note sehen würde? Wie würde er reagieren, wenn er sehen würde, wie sehr Computer in unseren Alltag integriert sind? Wäre er beeindruckt davon, dass diese „Universal Machines“, die er 1937 in einem Aufsatz beschrieb, unser Leben bestimmen oder wäre das ein Fall von „I told you so“? Wäre er überrascht, dass der von ihm entworfene Turing Test noch immer der Test ist, den künstliche Intelligenzen zu bestehen versuchen? Aber dass sich Menschen nicht mehr die Frage stellen OB, sondern WANN dies gelingen wird? Würde es ihn freuen, sein Gesicht auf vielen Regenbogenfahnen beim Pride-Month zu sehen? Würde es ihm Genugtuung verschaffen, dass die britische Regierung ihn und alle anderen zu seiner Zeit verurteilten Homosexuellen nachträglich begnadigt hat und sich offiziell für das angetane Unrecht entschuldigt hat? Wie würde er reagieren, wenn er erfährt, dass mittlerweile alle wissen, worüber er selbst nie sprechen durfte: Dass er und seine Kolleg:innen in Bletchley Park den deutschen Enigma Code knackten? Und dass ein Film darüber einen Oscar für das beste Drehbuch gewann? Und dass es noch unzählige weitere Bücher und Filme über sein Leben und Wirken gibt?
Wir werden es nie erfahren. Zeitreisen wie diese sind Fiktion. Aber Alan Turings Einfluss und Nachwirken auf unsere heutige Zeit bleiben real. Daher lohnt es sich einen Blick auf das Leben eines der bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts zu werfen. Daher werde ich heute, an Alan Turings 109. Geburtstag, meine kleine „Universal Machine“ nutzen, um ein paar Worte zu interessanten Büchern über sein Leben zu tippen. Vor genau zwei Jahren habe ich bereits etwas ähnliches getan: Im Artikel Von harten Fakten zu lebhaften Träumen: Alan Turing in Film, Buch und Graphic Novel habe ich euch bereits einige Bücher und Filme vorgestellt. Darunter auch die bekanntesten: Andrew Hodges‘ meisterhafte Biografie Alan Turing: The Enigma, an der sich auch über 30 Jahre nach Veröffentlichung noch alle anderen Biografien messen müssen und der Film The Imitation Game mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle. Ein Film, der, auch wenn er historisch und biografisch nicht besonders akkurat ist, doch zumindest dafür gesorgt hat, dass Alan Turing einer größeren Öffentlichkeit ein Begriff wurde. Heute jedoch geht es Bücher, die zwar weniger bekannt, aber dennoch durchaus einen Blick wert sind. Hier ist also Teil 2 meiner kleinen Alan-Turing-Buchempfehlungs-Reihe:
Kinderkram? Nicht nur!
Alan Turing: A Life Story und The Extraordinary Life of Alan Turing

Wir fangen mal ganz klein an – und das meine ich wörtlich. Die beiden handlichen Bücher A Life Story: Alan Turing und The Extraordinary Life of Alan Turing sind Kurzbiografien, die sich vorrangig an junge Leser*innen richten. Ihr, die ihr erwachsen seid, solltet euch aber davon nicht abschrecken lassen. Denn die beiden Bücher verstehen es durchaus, auch ausgewachsene Leser*innen zu begeistern. Gut aufbereiteten Informationen und komprimiertem Wissen können doch sicherlich alle Altersgruppen etwas abgewinnen, oder? Mit tollen Illustrationen und kurzen, einfach verständlichen, Texten führen sie uns durch Turings Leben. Diese beiden Bücher eignen sich also besonders gut als Einstieg, um sich einen groben Überblick zu verschaffen, ohne sich beim Aufschlagen von seitengewaltigen Biografien einen Bruch zu heben.
Beide Bücher stammen aus Buchreihen, die ein identisches Konzept verfolgen, nämlich jungen Leser*innen das Leben und die Ideen historischer Persönlichkeiten nahezubringen. Sie sind sich daher auch inhaltlich und gestalterisch ähnlich. Das kann man vielleicht schon erahnen, wenn man einen Blick auf die ähnliche Covergestaltung der beiden Bücher wirft.
Ein paar kleine Unterschiede gibt es aber dennoch. Joanna Nadins A Life Story: Alan Turing aus dem Scholastic Verlag ist ein wenig textlastiger. Es wird mehr erklärt und es gibt mehr Details. Besonders schön ist außerdem, dass es sich hierbei um ein Mitmachbuch handelt. Es gibt Quizze und Übungen, um das angeeignete Wissen zu überprüfen.
Bei The Extraordinary Life of Alan Turing von Michael Lee Richardson (Puffin Verlag) steht dagegen eher die visuelle Wissensvermittlung im Vordergrund. Mit liebevollen Illustrationen von Freda Chiu und aufwendiger Textgestaltung, entzückt dieses Buch Groß und Klein. Es macht großen Spaß durch die Seiten zu fliegen. Lang braucht man für dieses 120-seitige Buch wahrlich nicht – trotzdem hat man einiges gelernt. Sehr nützlich für die Jüngeren (oder vielleicht auch für diejenigen, die nicht die besten Englischkenntnisse haben) sind die einfach verständlichen Erklärungen zu „schwierigen“ Wörtern.
Ich kann diese kleinen Bücher wirklich jedem empfehlen – auch den bereits ausgewachsenen Leser*innen. Wer schon ein- oder zwei Dinge über Turing weiß, der hat mit diesen Büchern eine liebevoll gestaltete Gedächtnisauffrischung zu Hand. Und diejenigen, die sich einen kurzen Überblick zu Turings Leben und Wirken verschaffen wollen, aber vor „richtigen“ Biografien zurückschrecken, erhalten hier eine tolle Zusammenfassung. Daumen hoch!
Familienangelegenheiten
Prof: Alan Turing Decoded und Reflections of Alan Turing: A Relative Story von Dermot Turing

Das Bild, das viele Menschen von Alan Turing haben, ist das des missverstandenen Genies, des absoluten Außenseiters, der im Alleingang den deutschen Enigma-Code knackte und der von der Idee einer „denkenden“ Maschine fasziniert war, weil „echte“ Menschen, ihn zurückwiesen. Dieses Bild wird in nicht unerheblichem Maße vom Film The Imitation Game geprägt – der heftig mit dem „Loner-Genius“ Mythos spielt und der für viele der erste und einzige Berührungspunkt mit Alan Turing war.
Auftritt Dermot Turing, der in seinen Büchern mit diesem Bild aufräumen möchte. Ihr ahnt es, denn der Name lässt es schon vermuten: Es gibt hier eine familiäre Verknüpfung. Dermot Turing ist Alan Turings Neffe – er ist der Sohn von Alans älterem Bruder John.
Prof: Alan Turing Decoded ist eine klassische Biografie – sie führt uns chronologisch durch Alans Leben. Wer sich vom Standardwerk Alan Turing: The Enigma von Andrew Hodges wegen all den Formeln und technischen Beschreibungen ein wenig erschlagen fühlte, der findet in diesem Buch eine wunderbare Alternative. Ausgerichtet auf den Wissensstand von Laien, schafft dieses Buch den Spagat zwischen Vereinfachung und Detail. Es enthält außerdem einige Informationen, die in den 80er Jahren, als Hodges seine Biografie schrieb, noch unter Verschluss lagen – auch wenn dies keine besonders einschneidenden Enthüllungen sind. Wenig verwunderlich bei einem Verwandtschaftsverhältnis von Biograf und Biografiertem, beschäftigt sich dieses Buch außerdem etwas eingehender mit der Familiengeschichte der Familien Turing und Stoney – Alan Turings mütterlicher Seite.
Mit ihren 288 Seiten ist diese Biografie sehr viel knapper gehalten, als Hodges rund 900-seitiges Mammutwerk. Das gereicht diesem Buch jedoch nicht zum Nachteil. Prof: Alan Turing Decoded beschränkt sich auf das Wesentliche – auf das was, man wissen sollte, um die Tragweite von Alan Turings Ideen zu verstehen – und ist dabei so ansprechend geschrieben, dass man es in einem Rutsch durchlesen kann. Wer nach einem gut verständlichen und gut strukturiertem Einblick in Alan Turings Leben sucht, der ist hier an der richtigen Adresse.
In Reflections of Alan Turing: A Relative Story geht Dermot Turing einen etwas anderen Weg. Anders als sich chronologisch an Alan Turings Leben entlangzuhangeln, steht hier Alans Arbeit und – noch viel wichtiger – die Bedeutung dieser Arbeit für unsere heutige Zeit im Vordergrund. Dermot Turing wirft hier einen Blick auf Alans Ideen zu Künstlicher Intelligenz, Mathematik und Kryptographie und versucht dabei stets, mit dem einen oder anderen Irrglauben bezüglich Alans Persönlichkeit aufzuräumen. Darüber hinaus betrachtet Dermot Turing in diesem Buch auch gesellschaftlich relevante Fragen, die Verknüpfungen mit verschiedenen Lebensabschnitten Alan Turings haben – wie zum Beispiel Frauen in der Wissenschaft, Kriminalisierung von Sexualität und Heldenverehrung.
Diese Herangehensweise machte Reflections of Alan Turing für mich zu einem ausgesprochen interessanten Buch. Gerade durch die Abkehr vom klassisch biografischen Erzählen, gelingt es Dermot Turing hier extrem gut, die Tragweite von Alan Turings Arbeit aufzuzeigen und gleichzeitig die Lehren darzustellen, die wir, als Gesellschaft, aus Alan Turings Leben ziehen sollten. Es ist eine erfrischende Betrachtung, die mit vielen Stereotypen aufzuräumen versucht – insbesondere mit denen aus The Imitation Game. Daher sei eine Warnung ausgesprochen: Wenn ihr Alan Turing nur aus diesem Film kennt, und das Bild, das dort gezeichnet wurde, mochtet, dann könntet ihr von diesem Buch vielleicht ein wenig geschockt sein 😉
Kriminalroman trifft Zeitgeschichte
Fall of Man in Wilmslow (Der Sündenfall von Wilmslow) von David Lagercrantz

Alan Turing starb in der Nacht des 07. Juni 1954 in seinem Haus in Wilmslow. Das Zimmer, in dem man seine Leiche fand, roch nach bitteren Mandeln, neben Alan Turing lag ein halb aufgegessener Apfel. Die Todesursache: Cyanidvergiftung. Das Ermittlungsergebnis der Polizei lautete Suizid. Ein Urteil, das bis heute von vielen angezweifelt wird. So war zum Beispiel Alans Mutter überzeugt davon, dass sein Tod ein Unfall war – die Folge von Unachtsamkeit bei einem chemischen Experiment. Wieder andere gehen davon aus, dass Alan Turing ermordet wurde, da er für die Regierung ein Sicherheitsrisiko darstellte.
Im Roman The Fall of Man in Wilmslow wird Detective Corell damit beauftragt, den Tod von Alan Turing zu untersuchen. Bei seinen Ermittlungen stößt er auf ein ungewöhnlich hohes Maß an Geheimhaltung – viele Dokumente zu Turings Leben liegen unter Verschluss und Corell bekommt bald Besuch von Geheimdienstmitarbeitern, die ihn drängen, den Fall schnell abzuschließen. Was steckt dahinter? Corell versucht mehr über Turing herauszufinden und stößt dabei auf eines der bestgehüteten Geheimnisse der Kriegsjahre – Alan Turings Arbeit in Bletchley Park – und bringt sich dadurch in tödliche Gefahr.
Man kann aus dieser kurzen Beschreibung schon schließen: The Fall of Man in Wilmslow ist ein Spionageroman.
Der schwedische Autor David Lagercrantz vermischt hier Wahres mit Spekulativem und Fiktivem. Man darf daher keine biografisch absolut korrekte Darstellung der Ereignisse um Alan Turings Tod erwarten. In diesem Buch tauchen beispielsweise Beweise auf, die es in Wirklichkeit nicht gab. Um das Fiktive vom Erdachten zu unterscheiden, empfiehlt es sich daher schon, ein paar Dinge über Alan Turing zu wissen und nicht alles in diesem Buch für bare Münze zu nehmen. Was allerdings die große Stärke dieses Romans ist, ist dass er den historischen Kontext auf eindrückliche und – insbesondere aus heutiger Sicht – bedrückende Art und Weise vermittelt. Alan Turings Tod fiel in die Zeit des Kalten Krieges. Eine Reihe von Spionage-Skandalen, in die schwule und bisexuelle Männer verwickelt waren, hielt das britische Königreich in Atem. In der Folge war Homosexualität in den Köpfen vieler Menschen mit Spionage und Verrat verbunden. Zusätzlich galten homosexuelle Männer in Geheimdienstpositionen als leichte Ziele für Erpressung und dadurch als Sicherheitsrisiko. Nach seiner Verurteilung für „gross indecency“ und dem Bekanntwerden seiner Homosexualität verlor daher auch Alan Turing seine Sicherheitsfreigabe und seine Position beim GCHQ (Government Communications Headquarters). Das ist auch der Grund dafür, dass sich Gerüchte um einen politisch motivierten Mord bis heute halten: Wusste Alan Turing zu viel?
Es ist also ein bedrückend toxisches Klima, in das dieser Roman die Leser*innen zurückkatapultiert. Selbst der Protagonist der Geschichte, Detective Corell, ist zu Anfang keine Hilfe und vertritt die vorherrschenden Ansichten zu Homosexualität der damaligen Zeit. Doch im Laufe der Geschichte beginnt Corell seine eigenen Vorurteile in Frage zu stellen und sich gegen die Vorgaben seiner Vorgesetzten aufzulehnen. The Fall of Man in Wilmslow ist daher nicht vorrangig ein Buch über Alan Turing. Vielmehr ist es ein Kriminalroman, der teilweise recht lose auf wahren Ereignissen beruht, in dessen Fokus jedoch die Entwicklung des Ermittlers steht. Für Alan Turing-Fans dürfte dieses Buch trotzdem eine Lesereise wert sein.
So meine Lieben. Das war es mit den Buchempfehlungen zu Alan Turing. Vielleicht war ja etwas für euch dabei. Und falls nicht: Ich werde nicht müde, Bücher über Alan Turing zu lesen. Daher sehen wir uns vielleicht in ein oder zwei Jahren zu Teil 3 der Reihe wieder und dann ist vielleicht etwas Interessantes für euch dabei.
Aber heute bleibt mir nur noch zu sagen: Happy Birthday, Alan!
Infos zu den Büchern:
Alan Turing: A Life Story (2020), Joanna Nadin, Scholastic, 240 Seiten, ISBN: 978-1407193199, Sprache: Englisch, bisher keine Übersetzung ins Deutsche erschienen
The Extraordinary Life of Alan Turing (2020), Michael Lee Richardson (Autor), Freda Chiu (Illustrator), Puffin, 128 Seiten, 978-0241434017, Sprache: Englisch, bisher keine Übersetzung ins Deutsche erschienen
Reflections of Alan Turing: A Relative Story (2021), Dermot Turing, The History Press, 208 Seiten, ISBN 978-0750996099, Sprache: Englisch, bisher keine Übersetzung ins Deutsche erschienen
Prof: Alan Turing Decoded (2016), Dermot Turing, The History Press, 288 Seiten, ISBN 978-1841656601, Sprache: Englisch, bisher keine Übersetzung ins Deutsche erschienen
Fall of Man in Wilmslow (2015), David Lagercrantz, aus dem Schwedischen von George Goulding, Originaltitel: Syndafall i Wilmslow, MacLehose Press, 368 Seiten, 978-1848668935, Deutscher Titel: Der Sündenfall von Wilmslow (Piper-Verlag, ISBN: 978-3492310604, Übersetzung: Wolfgang Butt)