Als ich Chris Palings Reading Allowed: True Stories and Curious Incidents from a Provincial Library beim Schmökern im Buchladen entdeckte, wusste ich gleich, dass das etwas mit uns werden könnte. Ich hatte gerade eine stressige Woche hinter mir und kurze Geschichten schienen genau das Richtige für mich zu sein. Ein Probelesen hatte mir direkt ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, also landete das Buch kurzerhand in der Einkaufstasche. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass diese Sammlung von Geschichten weit mehr als kurzweilige Unterhaltung sein würde. Je weiter ich las, desto mehr hatte ich das Gefühl, einen kleinen, unentdeckten Schatz in den Händen zu halten.
Seit Chris Paling seine Tätigkeit als Produzent bei BBC Radio 4 an den Nagel gehängt hat, arbeitet er neben der Autorentätigkeit in einer Bibliothek im Süden Englands. In seinem Buch Reading Allowed: True Stories and Curious Incidents from a Provincial Library gewährt er uns nun einen Einblick in den Alltag eines Bibliothekars. Wer jetzt das Klischee des griesgrämigen Büchereivorstehers vor Augen hat, der die Besucher alle 10 Minuten mit einem aggressiven „Schhhh!“ zur Ruhe bittet, wird vermutlich etwas überrascht sein. Denn der moderne Bibliothekar muss sich anderen Herausforderungen stellen als unruhigen Lesern und verspäteten Rückgaben. Chris Paling erzählt uns hier von Verstopfungen im Herrenklo, von der Kunst, Bücher zu ordnen, von Budget-Einschnitten und vor allem von den wunderbar vielfältigen Besuchern der Bibliothek.
Von den Obdachlosen Wolf und Brewer zum Beispiel, die in den Wintermonaten hier Zuflucht vor der Kälte suchen. Von den Studenten, die zwar alle Plätze besetzen, aber nie Bücher ausleihen. Von Joseph, der hier jeden Tag mit seiner Tochter verbringt. Von Alan, einem jungen Mann mit Down-Syndrom, der jede Woche vorbeikommt um sich Sons of Anarchy auszuleihen. Von Trish, die von allen Menschen als erstes wissen will, ob sie verheiratet sind. Vom weit gereisten Herr, der so gerne Geschichten erzählt, aber sich bei jedem Besuch weniger an seine früheren Abenteuer erinnern kann. Oder von alten Damen, die mit der Begründung für verspätete Buch-Rückgaben nicht hinter dem Berg halten.
‚They’re all overdue,‘ she says, with the air of someone who has not transgressed this way before – but somehow she no longer cares.
I return the books. All have a small overdue charge.
‚I’ve lost the will to live,‘ she says. This is not delivered in the usual jokey way of the office worker peering helplessly at a frozen computer. This is the full Samuel Beckett no future, pointlessness of life scenario…
Die Einblicke des Bibliothekars enden dabei stets an den Mauern des Gebäudes. Oft kann er nur mutmaßen, was das Verhalten eines Besuchers begründet und wie sein Leben wohl abseits der Bibliothek aussieht. Manchmal jedoch, zum Beispiel wenn eine junge Mutter das Buch Is Daddy Coming Back in a Minute? Explaining sudden death to children in words they can understand ausleiht, erübrigt sich die Mutmaßung vollkommen.
Manche der Geschichten aus diesem Buch sind tragisch, manche witzig, manche informativ und manche einfach bizarr. Sie haben mich an Teile eines Mosaiks erinnert, die nur zusammengesetzt das Bild der Bibliothek ergeben.
Die Bücherei ist viel mehr als ein Ort, an dem Menschen in Ruhe lesen und arbeiten können. Sie ist Refugium, Sammelplatz, Informationsstand, Therapieraum und Schauplatz alltäglicher und außergewöhnlicher Begebenheiten. In den Zeiten der Digitalisierung und in der Ära das Internets müssen Institutionen wie diese jedoch wieder und wieder um ihre Daseinsberechtigung kämpfen. Eine Schlacht, die sie auf lange Sicht vermutlich verlieren werden. Zukünftige Generationen werden Offline-Büchereien nur noch aus den alten Geschichten ihrer Eltern kennen.
Reading Allowed: True Stories and Curious Incidents from a Provincial Library hat bei mir definitiv einen Nerv getroffen – die Anmeldung in der hiesigen Bibliothek steht nun ganz oben auf der To-Do-Liste. Viele der Geschichten in diesem Buch haben mich nachdenklich zurückgelassen, einige haben mich zum lachen gebracht, andere zu Tränen gerührt. Allen gemein ist, dass Chris Paling sie clever, charmant und vor allem mit viel Herz erzählt.
Es ist wirklich schade, dass Bücher irgendwann enden. Dieses hier hätte ich gern für immer weitergelesen.
Infos zum Buch
Titel: Reading Allowed: True Stories and Curious Incidents from a Provincial Library
Autor: Chris Paling
Verlag: Constable
Erstveröffentlichung: 2017
ISBN: 978-1472124715
Seiten: 320
Deutscher Titel: Bisher nicht erschienen
Das klingt so schön!
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Das ist es! Ich bin immernoch ganz beseelt.
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Hat dies auf ABI-Lehre rebloggt und kommentierte:
Buchempfehlung:
Chris Paling „Reading Allowed: True Stories and Curious Incidents from a Provincial Library“
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