Hallo, Freunde der Fiktion! Im letzten Jahr habe ich hier begonnen, einen kleinen Blick auf Magie in Geschichten zu werfen. Auf der Reise durch die Welt der fiktiven Zauberei haben wir geschaut, welche Arten von Magie-Systemen es gibt und gesehen, wie Magie als Element in Geschichten eingesetzt werden sollte, damit sie „funktioniert“. Heute, im vorerst letzten Teil der Reihe, soll es aber weniger um „Technisches“ gehen, sondern um ganz grundsätzliche Fragen. Warum spielt Magie in so vielen Geschichten eine Rolle? Woher stammt die Faszination? Und vor allem: Warum begeistern Geschichten mit Magie kleine und große Leser:innen gleichermaßen?
Ich werde mich in diesem Artikel nicht nur allein auf Magie konzentrieren, sondern auf das Fantasy-Genre allgemein. Denn diese beiden Dinge gehen Hand in Hand. Magie ist das Element, das das gesamte Genre trägt und es von anderen Genres abgrenzt. Wo Magie ist, da ist Fantasy. Insbesondere, wenn man den Begriff Magie, so wie in dieser Reihe, als all die Elemente und Fähigkeiten definiert, die in der realen Welt nicht vorhanden sind.
Nun gibt es Menschen, die sagen, Fantasy sei keine richtige Literatur. Und überhaupt könne man alle Filme, Bücher und sonstige Kreationen, die sich in das Reich der Magie vorwagen, aus Sicht eines aufgeklärten Erwachsenen nur als eines bezeichnen: „Kinderkram“ und „irgendwie albern“. Denn diese Geschichten zeigen uns nicht die Welt, wie sie ist und setzen sich nicht mit „echten“ Problemen auseinander. Ergo können Geschichten, die in einer magischen Welt spielen, nicht glaubwürdig und für unsere Welt nicht relevant sein. Als Erwachsener müsse man sich mit dem echten Leben beschäftigen, anstatt albernen Hirngespinsten von Fantasyautoren und -autorinnen zu lauschen.
Die Kraft des Unmöglichen
Nun, mein Blog heißt Fiktion fetzt, daher dürfte es vielleicht niemanden überraschen, dass ich dies für eine ziemlich traurige und wenn wir ehrlich sind, auch ziemlich versnobte Auffassung halte. Ich glaube an die Macht von Geschichten. Ich glaube, sie können die Menschen und die Welt inspirieren und bewegen. Fiktion als Ganzes kann uns nicht nur die Welt zeigen wie sie ist, sie kann uns eine Welt zeigen, wie sein sie könnte, oder eine Welt, in der Variablen ausgetauscht wurden. Und ich glaube, jedem sollte klar sein, dass große Ideen nicht aus dem Gedanken heraus geboren werden, dass nur das wichtig ist, was wir kennen, sehen und verstehen. Wäre das der Fall, gäbe es keine Menschen, die ihrer Fantasie und ihrer Vorstellungskraft freien Lauf lassen, keine Menschen, die dadurch innovative Ideen entwickeln, keine Menschen, die Dinge erfinden, die die Welt verändern. Die Menschheit stünde still. Fantasy-Geschichten tun genau das: Sie brechen die Grenzen der Welt, wie wir sie kennen, auf. Sie träumen und überwinden das, was als möglich gilt.
Womit ich allerdings nicht sagen will, dass Fantasy das beste und großartigste aller literarischen und filmischen Genres ist. Nein, jedes Genre hat seine Berechtigung und Relevanz. Ich will auch nicht sagen, dass Magie eine Geschichte automatisch gut macht oder dass alle Fantasy-Literatur gute Literatur ist. Was ich sagen will ist: Man sollte eine Geschichte nicht verspotten oder als irrelevant abtun, nur weil sie zum Fantasy Genre gehört. Es gibt viele gute Gründe, Geschichten mit und über Magie zu lesen. Hier sind ein paar davon:
Zuflucht
Um mal mit dem Offensichtlichen und mit dem Punkt zu beginnen, der oft das Naserümpfen der Real-Welt-Fanatiker hervorruft: Magie in Geschichten bietet eine wunderbare Form des Eskapismus, der Flucht aus dem realen Leben. Und wenn wir ganz ehrlich sind, brauchen wir doch alle mal eine Pause vom Real-Life. Das Vorhandensein von magischen Elementen aller Art – Superkräfte, Zauber, mystische Wesen etc. – schafft es, einen gewissen Abstand zum Drama der realen Welt zu kreieren, oder dieses zumindest aus der magischen Ferne, z.B. aus Mittelerde heraus, zu betrachten. Wir können unserer Fantasie freien Lauf lassen – das entspannt uns. Es entsteht außerdem das Gefühl des Erstaunens, des Abenteuers, das uns die reale Welt vielleicht gerade versagt. Je ausgefeilter und durchdachter eine magische Welt ist, desto realistischer die Illusion, uns ganz weit weg zu befinden. Aber es ist eben auch nur eine Illusion. Und das führt uns zum nächsten Punkt.
Magie ist nicht real (und darin liegt ihre Stärke)
Magie, in der realen Welt – Zaubershows und Kartentricks – ist immer eine Illusion. Die Frage, ist hier natürlich nicht, ob die „Magier“ tatsächlich zaubern können. Wir wissen schließlich, dass dem nicht so ist. Denn Magie existiert in unserer Welt nicht. Die Frage ist daher, wie glaubwürdig die Illusion ist. Wissen wir, wie der Trick funktioniert oder wissen wir es nicht?
Selbstverständlich wissen wir auch bei Magie als Element der Fiktion, dass sie nicht real ist. Magie ist der eindeutige Indikator dafür, dass wir hier gerade eine fiktive Geschichte erzählt bekommen, die so auf keinen Fall passiert sein kann. Gerade darin liegt nun aber die Kraft dieser magischen Geschichten. Denn durch das Bewusstsein, dass wir uns in einer fiktiven Welt bewegen, entsteht eine immerwährende und offensichtliche Abgrenzung zur realen Welt. Wir beginnen deshalb nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen unserer und dieser fiktiven Welt zu suchen. Dadurch steht Fantasy immer im Austausch und Bezug zur realen Welt und kann diese aus einem sicheren Abstand heraus kommentieren, reflektieren, beleuchten und hinterfragen. Manchmal dadurch, dass ähnliche gesellschaftliche Strukturen in dieser fantastischen Welt abgebildet oder ähnliche Probleme behandelt werden. Manchmal, indem Mythen, Sagen und Fabeln und somit die „magischen“ Elemente, die in unserer Kultur verankert sind, aufgegriffen, beleuchtet und neu interpretiert werden. Letzteres ist zum Beispiel für Autoren wie Neil Gaiman charakteristisch.
Empathie und Erkenntnis
Der Abstand zur realen Welt ist auch noch für einen anderen Punkt wichtig. „Echte“ Menschen im „echten“ Leben haben „echte“ Probleme und erleben „echten“ Schmerz. (Fiktive) Geschichten, die in unserer Welt spielen, sind manchmal zu real, der Schmerz zu echt, sie erinnern uns an Dinge, die wir vielleicht selbst erlebt haben. Aber betrachten wir dieselben Probleme und Themen in einer Fantasy-Geschichte, eingehüllt in einen Mantel aus fantastischen und magischen Elementen, entsteht genug Abstand, um die Geschichte zu genießen. Lektionen und Erkenntnisse, die man im Real-Life anwenden kann, kann man aus einer solchen Geschichte trotzdem ziehen. Denn der Lernprozess im menschlichen Gehirn ist ein Anknüpfungsprozess. Neue Informationen verknüpfen wir mit Dingen, die schon da sind, die wir gelernt oder erlebt haben. Dabei ist es relativ unerheblich, ob wir diese Informationen aus unseren eigenen Erfahrungen oder aus einer Geschichte ziehen und deshalb ist es auch unerheblich, ob sie aus einer Geschichte kommen, in der es Magie gibt. Wir erkennen, wie die Figur in der magischen Welt mit den Problemen umgeht und können daher die Erfahrungen und Erkenntnisse auf unsere eigenen Probleme oder Konflikte anwenden.
Harry Potter ist nicht nur eine Geschichte über Kinder, die in einer Schule lernen zu zaubern, es ist eine Geschichte über Freundschaft, Mut und das Überwinden von Hindernissen. Herr der Ringe ist nicht nur die Geschichte eines magischen Rings. Es ist eine Geschichte über Kämpfe, die man nur gemeinsam gewinnen kann und eine Geschichte über einen kleinen Hobbit, der mutig aus seiner Comfortzone heraustritt. Frozen ist nicht nur eine Geschichte über eine Königin, die Schneeflocken aus ihren Händen schießen kann. Es ist eine Geschichte über zwei junge Frauen, die lernen, sich selbst zu akzeptieren und die Kraft zu entdecken, die in ihnen schlummert.
Wichtige Lektionen aus Fantasy-Geschichten, die ausgewachsene und junge Leser:innen und Zuschauer:innen manchmal gleichermaßen gebrauchen können.
Große Einsätze, große Hoffnungen
Dadurch, dass wir mit Magie aber das Reich des Realen und Möglichen verlassen, haben wir es oft mit größeren Widersachern oder Problemen zu tun, als es in der realen Welt der Fall ist. Die Herausforderungen, denen sich die Heldinnen und Helden in magischen Geschichten stellen müssen, sind oft größer als die Probleme der realen Welt. Weltrettung, Kämpfe mit Drachen, Auslöschen böser Zauberer oder das Zerstören von magischen, weltgefährdenden Artefakten sind Dinge, mit denen wir uns im ‚Real-Life‘ nicht herumschlagen müssen. Mal davon abgesehen, dass diese Elemente meist Metaphern für etwas sind, dass uns auch in der realen Welt begegnen könnte, schöpfen wir Hoffnung daraus, dass es Menschen – und seien sie auch fiktional – gibt, die es mit Drachen, den Mächten des Teufels oder Superbösewichten wie Marvels Thanos aufnehmen können. Es gibt uns Kraft, unsere Helden und Heldinnen siegen und selbst die größten Probleme überwinden zu sehen.
Fantasy ermuntert Kinder zum Lesen
Für die Jüngeren bieten Magie und Fantasy aber noch einen anderen Mehrwert. Denn es sind vor allem magische Geschichten, die die Aufmerksamkeit von Kindern fesseln und sie die Leidenschaft für Bücher entdecken lassen. Vielleicht weil sie noch mehr Fantasie als Erwachsene besitzen und nicht so schnell alles als Humbug und Unwichtig abtun. Vielleicht weil sie weniger große Probleme haben und sich stattdessen an dem Gefühl des Erstaunens erfreuen, das Magie bietet. Aber egal, woher genau die Faszination stammt: Wenn wir uns an unsere ersten großen Leseerfahrungen erinnern – an die ersten Bücher und Geschichten, die uns gefesselt haben – waren das nicht Fantasy-Geschichten? Geschichten mit Hexen und Zauberern? Oder Geistergeschichten? Oder Geschichten von sprechenden Tieren oder verwunschenen Prinzessinnen und Prinzen? Waren es nicht, alles in allem, magische Geschichten?
Wenn wir wollen, dass aus Kindern später empathische und gebildete Erwachsene werden, die sich gut ausdrücken können und Texte und Sprache verstehen und analysieren können – und bei all dem hilft Lesen enorm – dann sollten wir sie die Geschichten lesen lassen, die sie lesen wollen. Was natürlich nicht heißen soll, dass wir als Erwachsene damit aufhören sollten. Nein, auch als Erwachsene sollten wir uns dem Zauber der Magie nicht entziehen.
Erkundung abstrakter Ideen
Denn Magie erlaubt es uns mitunter, philosophische Fragen, abstrakte Ideen und moralische Konflikte zu betrachten. Denken wir da einfach mal an den Pakt mit dem Teufel aus Goethes Faust. Ein eindeutig magisches Element, das es erlaubt, Gelehrten- und Gretchentragödie zu erkunden. Oder man denke an die magischen Elemente aus Charles Dickens‘ A Christmas Carol – Geister, Zeitreisen usw. Sie ermöglichen es nicht nur, die Geschichte von Scrooges Charakterentwicklung zu erzählen, sondern auch den Lesern einen Spiegel vorzuhalten, um sie an die Bedeutung von Nächstenliebe zu erinnern. Oder an die drei Hexen aus Shakespeares MacBeth, die diese wilde Wahnsinnfahrt einer Geschichte erst in Gang bringen. Ja, Magie war und ist eines der wichtigsten Elemente der Literatur – manchmal auch bei solcher, die man nicht auf den ersten Blick dem Fantasy Genre zuordnen würde.
Es gibt wirklich unzählige Fantasy Geschichten da draußen, die es sich zu erkunden lohnt. Sollte man als Autor:in aber noch eine weitere Fantasy-Geschichte schreiben, wo es doch schon so viele davon gibt und so viele Menschen dieses Genre als Kinderkram abtun? Sollte man als Leser:in wirklich noch eine Geschichte aus dem Regal ziehen, anstatt Geschichten zu lesen, die sich mit „echten“ Problemen beschäftigen?
Ja, und ja! Lasst eurer Fantasie freien Lauf. Die Welt braucht nicht weniger Magie, sondern mehr! Ich hoffe, ich konnte ein wenig verdeutlichen, warum. Also: Don’t let the muggles get you down!
So, mit diesem Schlusswort geht unser kleiner Ausflug in Reich der Magie vorerst zu Ende. Falls es aber noch mehr Dinge gibt, die euch zum Thema Magie in Geschichten interessieren, lasst es mich wissen – dann werfe ich gerne einen Blick für euch darauf. Bis bald!
Hier sind nochmal die beiden ersten Teile der Reihe:
Teil 1: Zaubern mit System
Teil 2: Die Gesetze der Magie: Wie Zauberei in Geschichten (nicht) funktioniert
Quellen zum Nachlesen:
Jodie Milner: Why write good magic?
Martin Cahill: The Role of Magic in Literature: Exposing Reality through Fantasy (University at Albany, State University of New York, 2012, Bachelor-Thesis)
Bilder: Pixabay

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Hey, klar gehört Faust, ein Sommernachtstraum, die Ilias und Odyssee, das Nibelungenlied,… zur Weltliteratur. Ich kann zB Konflikte und Grausamkeit besser ertragen, wenn sie in so einer fantastischen Welt spielen. Einen Film wie „Der Soldat James Ryan“, den ich damals noch im Kino geschaut habe, schaffe ich heute nicht mehr, weil es so nah an mich rankommt, dass ich es nicht mehr ertrage. Täuscht man das aber in unrealistische Super Helden, geht das und ich weiss ganz genau, dass es hier zwar ein Weltenzerstörer mit lila Haut zu besiegen gilt, es aber genau so Kriegstreiber und Diktatoren in echt gibt.
Rassismus kann in einem Fantasy Roman genau so gut beschrieben werden, wie in einem *realen* Roman, vielleicht haben die Verfolgten da nur spitze Ohren. Ein tolles Beispiel hier auch die Romane von T. Prattchett, der mit viel Humor daher kommt und uns dann plötzlich ein heftiges Thema um die Ohren haut. Durch die Distanz kann ich die Problematik manchmal besser verarbeiten, Schotte mich nicht gleich ab.
Ja, jedes Genre hat seine Daseinsberechtigung und ja! Bitte liebe Eltern, lest mit Euern Kindern, lasst sie lesen und lest selber. Gebt den Gedanken Flügel.
Ups. Das ist jetzt aber lang geworden.
Nimms als Kompliment, Danke
Liebe Grüße
Nina
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Ich finde es immer witzig, wenn Menschen meinen, dass Fantasy Literatur zu wenig realistisch wäre. Hallo wir reden über Literatur, und Literatur ist immer eine Abbildung der Realität und nicht Realität, egal ob es jetzt ein Thriller oder ein Fantasy Roman ist 😀 Meine Liebe zur Literatur ist auch durch Fantasy entstanden – durch Harry Potter, danach habe ich sämtliche Werke des Genres verschlungen. Und Flucht der Realität ist ein Aspekt, aber wie du schön geschrieben hast, ist es noch so viel mehr. Rassismus, Umweltzerstörung und andere wichtige Themen können in ein Fantasy Genre eingebettet sein. Die Möglichkeiten sind da endlos.
Liebe Grüße
Nadine
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Ein guter Abschluss. Der Artikel ist wirklich ermutigend! Ich habe irgendwann aufgehört Fantsay-Bücher zu lesen und mich stattdessen in Utopien beziehungsweise Dystopien geworfen. Aber auch da spielt, wie du das auch angesprochen hast, die Magie noch eine Rolle! Ich finde es gerade deshalb spannend, weil Dystopien ein Mix aus Fantasy, Sci-fi und anderen Genres ist.
Deinem Aufruf sollte man folgen: Mehr lesen lassen und Erfahrungen sammeln, Spaß haben, Fliehen, Zurückkehren, Träumen und so viel mehr!
Danke für deine kleine Trilogie über Magie!
Liebe Grüße
Moritz
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