[GELESEN] Joseph Heller: Catch 22

Listen über „Bücher, die man gelesen haben muss“ findet man an jeder Ecke des Internets. Stets gespickt mit den üblichen Verdächtigen: George Orwells 1984. Ray Badburys Fahrenheit 451, Aldous Huxleys Schöne neue Welt… Ihr wisst, von welchen Listen ich spreche. Auf vielen davon, insbesondere auf denen aus dem englischen Sprachraum, findet man auch Joseph Hellers Kriegsroman Catch 22 aus dem Jahr 1961.

IMG_20171021_133216_144 (1)Ab und zu lasse mich vom Inhalt dieser Listen unbewusst bei der Buchauswahl beeinflussen. Es ist ganz einfach: Wenn man etwas oft genug hört oder liest, bleibt die Botschaft irgendwann hängen – (Carglass repariert, Carglass tauscht aus). Wenn man also eines der Bücher von diesen Listen im Buchladen oder Onlineshop entdeckt, sagt der Kopf:  Das ist ein gutes Buch. Du solltest es kaufen. Es ist ein Buch, das man gelesen haben muss. Die ganze Welt liebt dieses Buch. Dieses Buch hat Leben verändert. Bestimmt bald auch deins. Los. Los. Los!
Ja und dann?
Dann brauche ich zwei Monate um das Buch auszulesen, weil es mich dann doch nicht ganz so beeindruckt, wie es sein Ruf verspricht… Ausnahmen, wie zum Beispiel Daniel Keyes‘ Flowers for Algernon, bestätigen hier natürlich die Regel. Aber gehört auch Catch 22 dazu?

Schauen wir mal.

Unser Protagonist, der amerikanische Bombenschütze Captain John Yossarián, ist mit seiner Staffel während des zweiten Weltkrieges im italienischen Pianosa stationiert. Wir treffen ihn zu Beginn des Buches im Lazarett an, wo er seine Tage damit verbringt, eine Leber-Krankheit vorzutäuschen, um eine Weile keine Einsätze fliegen zu müssen. Denn Yossarián möchte diesen Krieg überleben und Kampfeinsätze gefährden diesen Plan offensichtlich. Wegen seines, eigentlich nur allzu natürlichen, Bestrebens am Leben zu bleiben, gilt Yossarián unter einigen seiner Kameraden als verrückt.

»Man versucht, mich umzubringen«, erklärte Yossarián ihm ruhig.
»Niemand versucht dich umzubringen.« rief Clevinger.
»Wieso schießen sie denn auf mich?« rief Yossarián.
»Sie schießen auf jeden«, antwortete Clevinger. »Sie versuchen jeden von uns umzubringen.«
»Und was ist das für ein Unterschied?«

Es sind derartige Dialoge, die mich anfangs gleichermaßen amüsiert und beeindruckt haben. Denn obwohl das für einen Soldaten etwas merkwürdige Aussagen sind, kann man doch nicht bestreiten, dass ein Körnchen – oder eher ein Korn – Wahrheit darinsteckt. Warum sollte es einen Unterschied machen, ob man für sein Vaterland abgeschossen wird oder auf der Straße niedergestochen wird? Am Ende ist man tot, so oder so.

Yossarián möchte also dringend nach Hause geschickt werden. Doch das ist natürlich nicht ohne weiteres möglich. Schließlich ist er Soldat, Krieg gehört quasi zum Job. Eine Möglichkeit zur Heimreise wäre allerdings die Sollerfüllung. Doch die Anzahl der erforderlichen Feindflüge wird von der Führungsriege immer wieder erhöht. Zu Anfang sind es 25, dann 50 dann 75. Immer, wenn für Yossarián und seine Kameraden das Ziel zum Greifen nahe ist, wird die Anzahl wieder heraufgesetzt. Und so müssen sie fliegen. Immer und immer wieder.

Colonel Cathcart war mutig, und er zögerte nie seine Männer für einen Kampfauftrag freiwillig zu melden.

Die andere Möglichkeit wäre, wegen Geisteskrankheit fluguntauglich geschrieben zu werden – und daran arbeitet Yossarián hart. Aber es gibt einen Haken – oder eben „Catch“, wie es im Englischen heißt: Wegen Geisteskrankheit fluguntauglich geschrieben werden kann man nur, wenn man darum bittet. Wer aber nicht mehr im Krieg kämpfen möchte, kann nicht verrückt sein, weil nur ein Geisterkranker keine Angst davor hat, zu sterben. Wer also darum bittet, fluguntauglich geschrieben zu werden, kann nicht geisteskrank sein, und wird deshalb nicht fluguntauglich geschrieben.

»Er muß einfach verrückt sein, sonst würde er nicht immer wieder Einsätze fliegen, obgleich er oft genug knapp mit dem Leben davongekommen ist. Selbstverständlich kann ich Orr fluguntauglich schreiben. Er muß mich aber erst darum bitten.«
»Mehr braucht er nicht zu tun, um fluguntauglich geschrieben zu werden ? «
»Nein, mehr nicht. Er braucht mich nur zu bitten.«
»Und dann kannst du ihn fluguntauglich schreiben?» fragte Yossarian.
»Nein. Dann kann ich es nicht mehr.»
»Heißt das, daß die Sache einen Haken hat?«
»Klar hat sie einen Haken«, erwiderte Doc Daneeka. »Den X-Haken. Wer den Wunsch hat, sich vom Fronteinsatz zu drücken, kann nicht verrückt sein.«

Wie ihr hier seht, wurde in der Ausgabe die ich gelesen habe (Fischer Taschenbuch, 1994) der „Catch-22“ mit „X-Haken“ übersetzt. Das ist einigermaßen verwirrend, weil dadurch im Grunde nie ein Bezug zum Titel des Buches hergestellt wird. Mit ein paar Englischkenntnissen kann man die Verbindung natürlich trotzdem herleiten, aber ich fand diese Übersetzungsentscheidung trotzdem merkwürdig. Hätte man dann nicht eigentlich auch den Buchtitel übersetzen müssen? Komisch.

Die Übersetzung bringt mich allerdings zu einem weiteren Punkt: Ich lese Bücher normalerweise ja in gerne in Originalsprache, habe hier allerdings darauf verzichtet. Warum?
Nun, ich hatte in einer der oben genannten Listen gelesen, dass man der Handlung teilweise nur schwer folgen kann. Daher wollte ich meinem Gehirn nicht auch noch das Lesen in Zweitsprache zumuten und bin auf meine Muttersprache ausgewichen. Das war definitiv die richtige Entscheidung. Denn es stimmt tatsächlich: Joseph Heller springt recht wild zwischen Gegenwart und Erinnerungen und zwischen den verschiedenen Schauplätzen hin und er – und das manchmal ohne dabei einen Absatz zu setzen. Man hat deshalb recht oft das Gefühl, man hätte kurz nicht aufgepasst und deshalb den Teil überlesen, der einen zu einer bestimmten Szene führt. Hat man aber nicht. Es gab einfach einen ziemlichen Sprung – von einem Satz auf den anderen. Man könnte natürlich argumentieren, dass das ein bewusst eingesetztes Stilmittel ist, um das Wirrwarr des Krieges zu verdeutlichen. Aber man könnte auch einfach sagen, dass es für den Leser ziemlich anstrengend und ermüdend ist.

Ermüdend fand ich auch die Dialoge und Szenen, die sich wie der X-Haken im Kreis drehen. So wie zum Beispiel im Falle vom Major namens Major Major Major (sein Vater hat sich einen Spaß erlaubt): Er empfängt Besuch in seinem Büro nur dann, wenn er das Büro verlassen hat. Ist der Major nicht im Büro, wird man eingelassen. Kommt er zurück, muss man gehen. Ist er da, muss man warten bis er wieder geht… Das ist zwar erst irgendwie witzig (weil absurd), wenn man es aber zum dritten Mal erörtert bekommt, irgendwie langweilig. Insgesamt hatte ich beim Lesen häufig das Gefühl, mir würde jemand etwas mit Nachdruck erklären, das ich schon lange verstanden habe. Krieg ist grotesk und absurd, die Militärmaschine gaga und dumm – jawohl, Major (Major Major Major), ich habe verstanden!

Oft ist es der Leitsatz „Komik ist Tragik in Spiegelschrift“, der hier federführend zu sein scheint. Colonel Cathcart zum Beispiel, möchte es irgendwie schaffen, lobend im Kriegsberichterstatter-Magazin erwähnt zu werden. Er setzt deshalb nicht nur die Anzahl der Feindflüge seiner Männer immer wieder hoch, sondern entwickelt auch ein System, wie er den Familien der Gefallenen und Verwundeten stets ein persönliches Anschreiben zukommen lassen kann, ohne den Soldaten persönlich gekannt zu haben (und manchmal auch ohne dass er wirklich tot oder verwundet ist…). Revolutionär!

Geehrte Frau, Herr, Fräulein, oder Herr und Frau Daneeka: Worte können nicht den tiefen persönlichen Schmerz ausdrücken, den ich empfand als Ihr Gatte, Sohn, Vater oder Bruder gefallen, verwundet oder vermißt gemeldet wurde.

Ich kicherte da schon beträchtlich. Aber wenn man nun selbst so ein Schreiben bekäme? Würde man dann nicht merken, wie egal das Leben des Einzelnen ist? Und wie wenig es den Rest der Menschheit interessiert, dass deine Welt gerade zusammenbricht?

Es gibt aber auch Abschnitte in diesem Buch, in denen die Komik ganz verschwindet und nur die Tragik bleibt. Es sind Momente, die wirklich unter die Haut gehen. Gerade gegen Ende kippt die Stimmung beträchtlich.
Yossarián muss mit ansehen, wie seine Kameraden und Freunde bei Einsätzen verwundet werden, wie ihnen die Gedärme aus dem Bauch fallen, wie sie in zwei geteilt werden oder wie sie die eigene Maschine gegen einen Berg steuern, wie das Lager angegegriffen wird, weil ein Kamerad Geschäfte mit den Deutschen gemacht und die Staffel verraten hat. Yossarián möchte daraufhin keine Uniform mehr tragen und bleibt nackt. Ist das seltsam? Oder nicht doch im Grunde eine normale Reaktion in Anbetracht dieser Belastung? Können letztendlich nur Irre im Krieg bei Verstand bleiben?

Ob es Yossarián am Ende gelingt, dem Krieg zu entfliehen und den absurden X-Haken zu umgehen, verrate ich natürlich an dieser Stelle nicht. Stattdessen erzähle ich lieber, ob Catch 22 nun wirklich ein Buch ist, dass man gelesen haben muss.
Nein, ich denke nicht. Aber es ist zweifelsohne ein sehr spezieller Roman, der in vielerlei Hinsicht anders ist als jedes andere Buch, das ich je gelesen habe. Aber letztendlich fehlte mir der Aha-Moment, den ich von „Büchern die man gelesen haben muss“ erwarten würde. Neue Erkenntnisse oder eine neue Sicht auf die Welt liefert der Roman nicht. Dass Krieg absurd ist, wusste ich schon vorher.
Ich musste mich ziemlich durchkämpfen und habe lange gebraucht, bis ich auf der letzten Seite angekommen war – der Schreibstil ist definitiv nicht für jedermann geeignet. Dennoch kann ich diesen Roman empfehlen, wenn man einen etwas anderen Kriegsroman lesen möchte. Aber auch nur dann.


Infos zum Buch

Titel: Catch 22 (Originaltitel: Catch-22)
Autor: Joseph Heller
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN: 978-3596125722
Seiten: 592

There are 6 comments

  1. Sven

    Sehr tolle Rezension. Ich mag ja den Satz „Wegen seines, eigentlich nur allzu natürlichen, Bestrebens am Leben zu bleiben“. Als ich das erste mal von diesem Buch gehört habe, war ich überrascht, dass catch 22 nicht nur der Name einer Band ist. Ist Yossarian eigentlich der Erzähler der Geschichte? Es könnte ja sein, dass die Zeitsprünge in der Geschichte so wirr gemacht sind, weil der Erzähler doch schon etwas verrückt ist.

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    1. Karo

      Danke, Sven 🙂 Ich wiederum wusste gar nicht, dass es auch eine Band mit dem Namen gibt. Im Englischen ist Catch 22 ja tatsächlich so eine Art geflügeltes Wort.
      Yossarian ist leider nicht der Erzähler der Geschichte, obwohl ich das besser gefunden hätte – ich mag Ich-Erzähler sehr gern.

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  2. stefanini

    Da bin ich so wie du: Manchmal lasse ich mich von diesen Listen anfixen und versuche das eine oder andere Buch aus. Das letzte Mal habe ich die Bücher einfach aus der Bücherei ausgeliehen, weil ich schon ahnte, dass die tatsächliche Leseausbeute gering sein würde. So bin ich dann aber (auch wie du) bei Daniel Keyes hängen geblieben. Das war toll. Catch22 auf Englisch war mir unmöglich zu lesen. Ebensowenig wie Slaughterhouse Five, das ich aufgrund des Stils nur überflogen hab. Bei „Wenn ein Reisender in einer WInternacht“ finde ich die Idee und den Stil toll, sodass ich den „Listenplatz“ verstehe, aber gefesselt hat es mich auch nicht.
    Ich glaube, es geht bei diesen Büchern nicht um den Unterhaltungswert, sondern darum, dass die Autoren an ihrem Stil erkennbar sind, dass sie etwas Neues, Erstmaliges ausprobiert haben. Leider spielt bei mir, auch wenn ich Germanistin und Lehrerin bin, doch das Unterhaltenwerden eine zu große Rolle, als dass ich mich durch jedes Buch lese …

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    1. Karo

      Ja mir geht es da genauso: Wenn ein Buch nicht so richtig unterhaltsam ist, fällt es mir sehr schwer, es zu mögen – auch wenn Ideen oder Stil vielleicht revolutionär sind.
      Slaughterhouse Five steht auch noch auf meiner Liste – aber ich trau mich nicht so richtig ran…

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