(KEINE SORGE – SPOILERFREI)
Ein eingeschneiter Zug, ein Mord, dreizehn Verdächtige und ein exzentrischer Detektiv – Mord im Orient-Express ist ein Whodunit, wie er im Buche steht.
Der Kriminalroman von Agatha Christie aus dem Jahr 1934 begeistert bis heute Millionen Leser, die sich mit Freude zusammen mit Detektiv Hercule Poirot auf Spurensuche begaben. Nun ist einer der berühmtesten Kriminalfälle wieder auf der Kinoleinwand zu sehen – mit hochkarätiger Besetzung. Aber wird der Film seiner Buchvorlage gerecht?
Um es kurz zu machen: Nein. Die Handlung ist, abgesehen von ein paar kleinen Änderungen, zwar sehr nah am Buch, aber trotzdem gelingt es dem Film nicht, die geheimnisträchtige Atmosphäre einzufangen, von der das Buch lebt. Wie eine dunkle Gewitterwolke scheint der Mordfall im Buch über den Passagieren zu schweben, nur darauf wartend, mit einem Unwetter loszubrechen, sobald sich die kleinste Ungereimtheit in ihren Alibis ergibt. Man hat das Gefühl, dass unter der Oberfläche einiges brodelt und dass sich die Charaktere gegenseitig misstrauen und ein Sturm losbrechen wird, sollte das Verbrechen nicht schnell aufgeklärt werden. Im Film wirkt dagegen alles viel glatter, weichgezeichnet und gleichgültiger. Auch die Figuren erscheinen im Vergleich zu ihren Roman-Geschwistern – trotz der tollen Kostüme und des schillernden Ensembles mitsamt Judi Dench und Willem Defoe – blass und weniger gegensätzlich. Das mag für den einen oder anderen realistisch wirken, mich sprach es jedoch nicht an. Einzige Ausnahme: der Detektiv Poirot. Kenneth Branagh macht sich fantastisch als exzentrischer, genialer Ermittler und schafft es, den bizarren Bart so würdevoll zur Schau zu stellen, dass er beinahe schon attraktiv wirkt. Aber auch der Detektiv kann das Ruder letztendlich nicht herumreißen – Mord im Orient-Express konnte mich insgesamt nicht begeistern.
Wobei, das gebe ich zu, dieses Urteil vermutlich anders ausfallen würde, hätte ich das Buch nicht gelesen. Im Kinosaal wurde teilweise sogar beim Abspann applaudiert! Auch meine Freundin, die das Buch nicht kannte, war sehr viel weniger enttäuscht als ich. Zwar störten wir uns beide an den unnötig geschwollenen Dialogen, die teilweise so aufgebläht waren, dass wir zu kichern begannen, aber trotzdem war sie doch größtenteils damit beschäftigt, das Hinweis-Puzzle zusammenzusetzen und den Mörder ausfindig zu machen. Während ich hingegen nicht sehr viel mehr zu tun hatte, als mich daran zu hindern, Dinge zu flüstern wie: „Haste gesehen? Das war grad ein super wichtiger Hinweis!“
Die Hinweise präsentiert der Film auch tatsächlich geschickt und vermutlich nicht übermäßig durchschaubar, wenn man eben nicht wüsste, worauf man achten muss. Die aus der Überkopf-Perspektive gefilmten Zugabteile waren dafür auch ein wunderbar passendes Element – man fühlte sich ein wenig an ein Cluedo-Spielbrett erinnert.
Außerdem muss man ehrlicherweise sagen, dass der Zauber eines Krimis und speziell eines Whodunits ohnehin etwas verfliegt, wenn man schon weiß, wer der Mörder ist. Es gibt natürlich Ausnahmen, die ich mir trotzdem immer wieder zu Gemüte führe (ihr wisst, von welchen Detektivgeschichten ich spreche), aber die Abenteuer von Agatha Christie gehören nicht dazu. Zwar fand ich den Mord im Orient-Express Roman unglaublich unterhaltsam, aber ein zweites Mal lesen würde ich ihn ehrlich gesagt auch nicht. Das Rätselraten macht hier definitiv den Großteil des Spaßes aus. Kennt man den Täter, lässt die Faszination spürbar nach. Vielleicht tut man sich bei Verfilmungen generell und hier im Speziellen wirklich keinen Gefallen damit, die Buchvorlage zu kennen.
Auch die unnötigen Actionszenen und Dramatisierungen, wie der Halt des Zuges auf einer meterhohen, schmalen Brücke, wären mir vermutlich nicht so sauer aufgestoßen, hätte ich nicht gewusst, dass die Geschichte im Buch auch einwandfrei ohne derartige Ausschmückung auskommt. Wobei ich auch durchaus verstehen kann, dass man sich zu derartigen Schritten entschließt. Ein Hollywood-Blockbuster, insbesondere einer der kommerziell erfolgreich sein will, muss immerhin versuchen, ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Das führt dazu, dass Dinge romantisiert und Action-Elemente verbaut werden. So kann man auch diejenigen filmisch abholen, die vielleicht von ihrer besseren (krimiliebenden) Hälfte ins Kino geschleppt wurden. Aber dass ich es nachvollziehen kann, heißt ja trotzdem noch lange nicht, dass ich es mögen muss…
Ist Mord im Orient-Express also eine gute Buchverfilmung? Ich finde nicht.
Ist es trotzdem ein guter Kriminalfilm? Vermutlich – wenn man noch nicht weiß, wer der Mörder ist.
Du hast völlig recht! Für Kenner des Buches ist der Film eher enttäuschend, aber für die Anderen ist der Film definitiv sehenswert.
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Wie ist er denn im Vergleich zu dem damals extrem hochkarätig besetzten Film von 1974? Ich muss gestehen, dass ich ein Fan von eben jenem bin und sich mit die Notwendigkeit einer Neuverfilmung nicht so völlig erschließt…
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Da kann ich dir leider nichts zu sagen, da ich die Verfilmung von 1974 nicht gesehen habe… Habe aber zum Beispiel hier gelesen, dass die beiden Filme recht identisch sind: https://kinogucker.wordpress.com/2017/11/09/mord-im-orient-express/
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Diese Frage wollte ich auch grad stellen, da ich auch großer Fan des alten Filmes bin. Der lässt sich halt auch gut und gerne nochmal ansehen, an einem Wintertag, ganz gemütlich. Kommt ja öfter mal im TV, vielleicht schaust Du ihn Dir dann mal an? Ich glaub, ich sollte mal das Buch lesen, am besten im Original. Liebe Grüße 🙂
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Hmmm vielleicht sollte ich mir den wirklich mal anschauen. Aber ein bisschen Zeit werd ich wohl vorher vergehen lassen – vielleicht vergess ich ja irgendwann, wer der Täter ist 😀 Das Buch kann ich in jedem Fall empfehlen. Habe es auch im Original gelesen. Es liest sich schön leicht und flüssig und bleibt trotzdem wunderbar spannend. Liebe Grüße
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Kann den alten Film sehr empfehlen, recht atmosphärisch – halt völlig ohne jede Aktion und so, aber durchaus gut gemacht. Natürlich, wenn man die Auflösung kennt, ist es weniger spannend. Aber die Darsteller sind top.
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Vermutlich geht Hollywood langsam der Filmstoff aus, Raum für Neues bleibt da nicht. Aber am Akzent des Sprechers hätte man noch ein klein wenig arbeiten können 😉 Ich habe das Buch vor 20 Jahren gelesen und ich wäre vermutlich ebenso enttäuscht wie du. Vielleicht suche ich mir mal das Original aus den 70ern raus für die Feiertage. Neben „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ muss man ja auch mal etwas Anderes gucken, nicht wahr.
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Danke für die ehrliche, spoilerfreie Rezension! Als Nicht-Kenner des Buches (Krimis sind nicht so meins) überleg ich mir jetzt, doch ins Kino zu gehen 🙂
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[…] [GESEHEN] Mord im Orient-Express von Karo […]
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Ja, Whodunits sind schwierig, wenn man das Ende schon kennt. Kann mich bei Krimis auch manchmal besser, manchmal schlechter abholen.
Da du das Buch gelesen hast, würde mich noch interessieren, ob das Buch tatsächlich mehr rassistische Untertöne hat? In den Medien habe ich gelesen, dass sich Poirot in dem Film lobenswerterweise davon distanziert, während das im Buch (laut des Artikels) nicht der Fall war und er einige rassistische Untertöne von sich geben würde?
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Poirots Aussagen selbst sind mir nicht so rassistisch im Gedächtnis geblieben, aber es gab hier und da ein paar Stellen, die man heute so auf jeden Fall nicht schreiben würde. Gerade die Aussagen über den Italiener (ich glaube im Film ist er Spanier) sind teilweise grenzwertig. Allerdings muss man sagen, dass dieses Problem viele Bücher aus der damaligen Zeit betrifft. Es gibt zum Beispiel auch die eine oder andere Sherlock Holmes Geschichte, die da nicht so ganz sauber ist. Ich denke, man kann Aussagen von damals nicht an heutigen Maßstäben messen.
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