Warum unser Gehirn Geschichten mag

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Schon als ich noch ein Kind war, mochte ich Geschichten. „Der dicke, fette Pfannekuchen“ ist die erste, an die ich mich erinnern kann (kanntapper, kanntapper). Aber auch die große Sammlung von Grimms Märchen, aus der meine Mutter mir vorgelesen hat oder das Buch mit Fabeln, aus dem mein Opa manchmal etwas vorgetragen hat, sind mir gut im Gedächtnis geblieben. Diese Geschichten – die schon über Jahrhunderte hinweg erzählt werden – sind für viele, genau wie für mich, vor allem mit schönen Kindheitserinnerungen verknüpft. Meine große Liebe zu Geschichten nahm aber erst wirklich Fahrt auf, als ich selbst lesen konnte. In der fiktiven Welt gab es schließlich noch viel mehr zu entdecken als Rotkäppchen und den bösen Wolf: Gruselige Begegnungen mit Geistern, Besuche auf Zauberinternaten, spannende Rätselabenteuer – ich liebte sie alle. Bis auf einen kurzen Durchhänger in meinen frühen bis mittleren Zwanzigern habe ich also gelesen, gelesen, gelesen – auch wenn ich natürlich nicht Nein zu schönen Stories in Form von Serien, Filmen, Theaterstücken oder Hörspielen sage.

Dass mich gute Geschichten begeistern, hat viele Gründe. Unterhaltung und Ablenkung sind die beiden, die als erstes in den Sinn kommen. Wenn die Welt um mich herum zu laut oder zu leise ist, hilft ein gutes Buch. Spaß ist ein weiterer Faktor. Ich mag es, wie Geschichten Bilder im Kopf entstehen lassen und die Fantasie ankurbeln.
Aber wonach man als Bücherwurm ja eigentlich sucht, sind Geschichten, die mehr bieten als bloße Ablenkung. Geschichten, die einen zum Nachdenken anregen, aus denen man etwas lernt und auf die man sich besinnen kann, wenn man Entscheidungen treffen muss. Die gibt es nicht allzu oft. Aber auf sie zu stoßen, ist eine der größten Freuden im Leben.

Gut, warum ich Geschichten liebe, weiß ich also schon mal. Wieso das auch bei dem Rest der Menschheit so ist? Nun, ich habe ein wenig recherchiert.
Schuld ist, wie immer, unser Gehirn.

Wer seinen Kommilitonen, Mitschülern oder Kollegen schon einmal die Ergebnisse einer statistischen Auswertung vortragen durfte, kennt das sicherlich: Wirken am Anfang die meisten noch aufmerksam, motiviert und schreiben vielleicht sogar mit, wird nach einiger Zeit der Blick leicht glasig und unfokussiert und man beginnt auf den Gesichtern der Zuhörer den merkwürdigen Ausdruck zu erkennen, der entsteht, wenn jemand versucht, mit geschlossenem Mund zu gähnen. Ich kenne das, hantiere ich doch beruflich ab und an mit Excel-Listen, großen Datenmengen, Mittelwerten, prozentualen Abweichungen und anderen Dingen, bei denen einigen schon bei der bloßen Vorstellung der Kopf auf den Tisch knallt. Ich verurteile das keineswegs – es geht mir ja manchmal auch nicht anders. Aber das Beruhigende: Wir können nichts dafür. Unser Gehirn ist einfach so gepolt. Oder anders ausgedrückt: Es langweilt sich bei Statistiken einfach ein wenig.

Bekommt es Zahlen, Daten oder Fakten vorgetragen, wird nämlich genau ein Teil des Gehirns angesprochen. Der, der sich mit der Verarbeitung von Sprache beschäftigt. Worte werden dekodiert und vielleicht geht ein kleiner Teil der Information ins Gedächtnis über – das war’s dann aber auch schon.
Anders verhält es sich bei Geschichten. Hier wird zwar ebenfalls die Sprachverarbeitung aktiv, aber es werden auch andere Areale des Gehirns beansprucht – und das sind überraschenderweise Bereiche, die normalerweise aktiv werden, wenn wir Erfahrungen aus erster Hand machen. Das kann beispielsweise der Motorcortex sein (grob gesagt für Bewegungen zuständig) oder Hirnareale, in denen verschiedenste Sinneseindrücke, wie Berührungen, Gerüche oder Schmerz verarbeitet werden. Eine Geschichte sorgt also, anders als nackte Fakten, dafür, dass wir sie miterleben können oder müssen – je nachdem, wie man es nimmt.
Wir können Geschichten aber nicht nur hautnah mitfühlen, sondern eben auch aus ihnen lernen. Vor allem weil der Lernprozess im menschlichen Gehirn ein Verknüpfungsprozess ist. Alles was wir lernen, hängen wir gewissermaßen an die Informationen heran, die uns bereits zur Verfügung stehen. Ein simples Beispiel: Irgendwann haben wir beobachtet, dass Mama zum Kochen die Herdplatte anschaltet. Sie warnt uns: „Nicht anfassen, das ist heiß!“ Als nächstes machen wir vermutlich aus Neugier trotzdem die unschöne Erfahrung: Die eingeschaltete Herdplatte anzufassen, tut verdammt weh. Und wir merken uns: Herd – Hitze – Schmerz – Vorsicht!
Anders als bloße Fakten können Geschichten an viel mehr Verknüpfungspunkten „andocken“. An Dinge nämlich, die wir schon selbst gesehen, erlebt oder auf andere Weise in Erfahrung gebracht haben. Bei unserer statistischen Auswertung vom Anfang sind die Berührungspunkte sehr wahrscheinlich in geringerer Quantität vorhanden als beispielsweise bei einem Young Adult Roman – jung waren wir schließlich alle irgendwann mal (oder sind es noch).
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Menschen sich seit tausenden von Jahren Geschichten erzählen – sei es nun in Form von Höhlenmalereien oder Fabeln und Märchen. Die Lektionen oder auch die altbekannte „Moral von der Geschicht'“ können wir uns in Form einer Geschichte einfach am besten merken – sie wird ähnlich abgespeichert wie eine Erinnerung an etwas, das wir selbst erlebt haben. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass Storytelling in der Werbung ein wichtiger Aspekt ist: Diese Botschaften bleiben bei uns hängen.
Hinzu kommt, dass die meisten Menschen mithilfe von Bildern am besten lernen. Zahlen oder Fakten in Bilder umzuwandeln ist allerdings leider keine einfache Angelegenheit. Hören, oder lesen wir dagegen eine Geschichte, entwirft das Gehirn entsprechende Bilder ganz automatisch.

Forscher fanden zudem heraus, dass sich der Oxytocinspiegel im Blut erhöht, wenn wir charakterbasierte Geschichten hören. Nun, erschreckt euch nicht, wenn ich euch jetzt sage, dass Oxytocin wichtig für den Geburtsprozess ist, da es unter anderem die Sekretion der Muttermilch ankurbelt. Was nicht bedeutet, dass wir gleich Milch bilden, nur weil uns eine Geschichte gefällt. Oxytocin ist auch unter dem Namen „Kuschelhormon“ bekannt. Daher ist es natürlich ausgesprochen wichtig für die Mutter-Kind-Beziehung, aber auch für alle anderen sozialen Bindungen. Es wirkt vor allem in den Bereichen des Gehirns, die für Empathie, Mitgefühl, Zusammenarbeit und Vertrauen verantwortlich sind. Kein Wunder also, dass wir mit Harry Potter mitfühlen können, während es uns einigermaßen kalt lässt, wie hoch der Mittelwert einer bestimmten Kenngröße ist. Das Kuschelhormon macht’s möglich.

Wir sehen also, unser Gehirn kann gar nicht anders: Es muss Geschichten einfach mögen. Sie setzen nicht nur Hormone frei, sondern wir können durch sie lernen. Erfahrungen, die Charaktere in Büchern machen, verknüpfen sich mit unseren eigenen und wir können so auf sie zurückgreifen, wann immer wir wollen. J.K. Rowling hatte also – nicht nur im übertragenen Sinne – recht, als sie sagte „The stories we love best do live in us forever.“


Mehr zum Thema:
You&Co: Why Do We Love Stories?
news aktuell: „Wir denken sehr gerne in Bildern“ – Was Storytelling in unserem Gehirn bewirkt
Research Gate Forum: Why do we like stories?

Bild: Pixabay

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There are 12 comments

  1. Erika Mager

    Deine Ausführungen gefallen mir und decken sich mit meinen Beobachtungen. Zu ergänzen wäre: unser Gehirn funktioniert immer besser, je mehr wir ihm zu tun geben. Tun wir ihm den Gefallen mit guten Geschichten.

    Gefällt 2 Personen

  2. Talianna

    Ich hänge mein Wissen bevorzugt an Verbindungen und Geschichten auf – und das ist die Begründung für das, was ich instinktiv mache. Meine Studis haben auch meist das Wissen am besten verinnerlicht und in Prüfungen gezeigt, das ich an Anekdoten oder einer Erzählung an der Tafel erläutert habe. 🙂

    Gefällt 2 Personen

  3. Sven

    Boar … Karo. Du hast mich jetzt echt voll erschreckt. Ich hatte schon bisschen Angst, dass ich bei der nächsten gefühlvollen Geschichte, die ich lese oder höre Milch produziere.
    Der Ausstoß des Kuschelhormons erklärt aber auch, warum der Hashtag #buchundbett auf Twitter so beliebt ist und warum viele zum Einschlafen ein Buch lesen.

    Gefällt 1 Person

    1. Karo

      Ha! So hab ich das noch gar nicht betrachtet – jetzt macht das Einschlaflesen noch viel mehr Sinn. Obwohl eine gute Geschichte ja das Einschlafen auch ganz gut verhindern kann 🙂

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  4. Nicci Trallafitti

    Hey!
    Ein sehr interessanter Beitrag 🙂
    Mittlerweile ist es echt so, dass mein Hirn direkt abschaltet (gefühlt), wenn jemand mit Zahlen und Statistiken um die Ecke kommt.
    Vielleicht sollte derjenige das mit den Märchen verknüpfen.. „Es war einmal eine kleine Statistik..“ 😀

    Liebe Grüße,
    Nicci

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    1. Karo

      Haha, das wär vielleicht mal ’ne Idee! Aber wahrscheinlich würde man das Märchen im Kopf unter der Kategorie „Langweilige Stories“ abspeichern. Wobei eine langweilige Story vielleicht immer noch besser wäre, als gar keine 😀
      Ich finde ja Fakten und Statistiken von Zeit zu Zeit ganz interessant. Aber merken kann ich sie mir halt eher mäßig (besonders die Statistiken). Liebe Grüße

      Gefällt 1 Person

      1. Nicci Trallafitti

        Haha, da hast du auch wieder recht. Einerseits langweilig, andererseits bleibt es dennoch eine Story.
        Ich kann mir sowas auch selten merken.. nur wenn es mich brennend interessiert.

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